Ohne um die jeweiligen Vorgängermedien, ihre Funktionsweise, Geschichte – und die durch sie ausgelösten Änderungen der Wahrnehmung – Bescheid zu wissen, dürfte es (ganz freundlich formuliert) ein klein wenig schwierig sein, aktuelle Medientheorie mit Mehrwert zu produzieren. Und ob man dem also vorauszusetzenden Bedürfnis bspw. in Ópusztaszer (Nähe Szeged; Dauerausstellung) nachgeht und sich das dort erhaltene Rundpanorama von 1895 ansieht oder als Inversion der Betrachtungssituation eines von August Fuhrmann vor mehr als 100 Jahren in die breitenwirksame Kapitalisierung gehobenen Kaiserpanoramen – bis zu 25 Personen konnten auf Stühlen vor einer aus Holz gebauten Rotunde (ungefähre Maße: 3,75m, Höhe: 2,40m) die gut fünfzig Glas-Diapositive, die nach einem akustischen Signal wechselten, betrachten; sozusagen: an sich vorbeiziehen lassen –, ist vor allem eine Frage der Zeiteinteilung. Beides empfiehlt sich.
Das so genannte »Kaiserpanorama« also, um mit diesem zu beginnen, neben Walter Benjamin auch von Franz Kafka, Franz Hessel, Egon Erwin Kisch und Siegfried Kracauer u.a. erwähnt, von Arthur Schnitzler hunderte Male aufgesucht, war einer der Mit- und medienhistorisch Vorläufer des Kinos und brachte um die Jahrhundertwende die damals schon industriell organisierte Fotografie in einen systematischen und kontrollierte Verkehr.
Benjamin beschrieb etwa die Einrichtung wie folgt näher:
Es war ein großer Reiz der Reisebilder, die man im Kaiserpanorama fand […]. Und besonders gegen das Ende meiner Kindheit, als die Mode den Kaiserpanoramen schon den Rücken kehrte, gewöhnte man sich, im halbleeren Zimmer rundzureisen. […] Als ich zum erstenmal dort eintrat, war die Zeit der zierlichsten Veduten längst vorbei. Der Zauber aber, dessen letztes Publikum die Kinder waren, hatte nichts verloren.
Walter Benjamin: Kaiserpanorama. In: Ders.: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert
Kafka thematisierte anlässlich einer Dienstreise nach Friedland ebenfalls solch ein Panorama – und schon wird’s noch komplexer:
Die Bilder lebendiger als im Kinematographen, weil sie dem Blick die Ruhe der Wirklichkeit lassen. Der Kinematograph gibt dem Angeschauten die Unruhe ihrer Bewegung, die Ruhe des Blicks scheint wichtiger. Glatter Boden der Kathedralen vor unserer Zunge. Warum gibt es keine Vereinigung von Kinema und Stereoskop in dieser Weise.
Foto und Dia galten zwar nach ihrer flächendeckenden Einführung schnell als dem gemalten Rundpanorama überlegen, eine punktgenauere Realitätsabbildung und die scheinbar präzis mögliche Wiedergabe angenommener (d.h. stillschweigend vorausgesetzter) Wirklichkeit schienen endlich erreicht. Doch noch während dieser Paradigmenwechsel im Gang ist und das Detail gegenüber der Gesamtheit (und dem Umstand, dass ein Rundpanorama gerade im 19. Jahrhundert eine Immersion – ein zumindest dreidimensionaler Eindruck des Erlebens, der optisch durch Unschärfe erreicht wurde – mit sich brachte!) Geltung erlangt, wird die scheinbar unbestechliche Präzision durch eine weitere mediale Parallelaktion (denn wie sich schon an diesen kleinen Beispielen zeigen lässt: Medien lösen sich nicht ab, es sei denn im Zuge ihrer je eigenen Weiterentwicklung; vielmehr bestehen Formen der Ko-Existenz, damit auch die Möglichkeit der Verschaltung ihrer je unterschiedlichen Bedingungen wie Materialitäten) in ihrem soeben erst erlangten Status konkurrenziert, obendrein mit einem scheinbaren Rückschritt: Der Film erzeugt wie das Panorama einen ›Nicht-Blick‹. Sein unschlagbarer Vorteil, das Neue, besteht in der Bewegung, die Abläufe nähern sich auf noch nicht gekannte Weise dem Bekannten, dem Erkennbaren, an.
Während die Ideale der Wirklichkeitswiedergabe somit auf verschiedenen Wegen immer besser erfüllt zu werden schienen (z.B. auch via Stereoskopie, d.h. v.a. dem Guckkastenpanorama) gerieten jedenfalls unweigerlich die noch wenige Jahre zuvor so erfolgreichen Großbildpanoramen ins Hintertreffen – es sei denn, deren Funktion konnte an Bestehendes anknüpfen und in Richtung eines nationsstiftenden Sinnbildes bzw. einer identifikatorischen Entität gelenkt werden. Diese neue Eigenschaft war eine, die im Transport einer insinuierten Metaebene bestand; das Rundpanorama diente demgegenüber, wiewohl zunehmend veraltet, als Speicher einer verordneten kollektiven Erinnerungsleistung. Dabei stellt sich jedoch ein (im folgenden Zitat im Zusammenhang mit der Beschleunigung von Bildmedien stehendes, für unsere Fragestellung nichts desto trotz relevantes) Problem:
Das Sein der Dinge ist Speicherbarkeit und ihr Nichtsein Zerstörbarkeit. Die Technik ist der Ort, an dem sichtbar wird, daß sich Sein und Nichtsein gegenseitig heimsuchen. So wird der Blick denkbar als jenes zeitliche Dunkel, das ihn sehend macht. Doch sobald er unter eine Technik gerät, die diese Dunkelheit in einer Zäsur statuiert, muß eine Sehtechnik ihn dort anzutreffen suchen, wo er punktuell erschüttert und getilgt wird, um die Herrschaft über seine eigene Andersheit, über das, was er nicht ist, um Blick zu sein, zu übernehmen. Aber dort wartet nur ein neuerliches Verschwinden auf ihn; der Blick kann sich nicht selbst bestechen.
Iris Därmann: Noch einmal: 3/4 Sekunde, aber schnell
Die stete Erneuerung eines derart künstlich initiierten Gedächtnisses sollte folglich einen Übergang zur fortwährenden Einübung in eine Ikonologie stiften, die von allen konsumiert und im Sinne der Identitätskonstruktion (nach)vollzogen werden konnte.
Um auf das eingangs angedeutete Beispiel zurückzukommen: Das ungarische Panorama in Ópusztaszer, 1895/96 für die Millenniumsausstellung von Árpád Feszty umgesetzt und ursprünglich für die Aufstellung im Budapester Stadtwäldchen konzipiert (ein anderes schönes Beispiel wäre etwa das Panorama von der Schlacht am Berg Isel, das zeitgleich in Innsbruck im Zuge der Landesausstellung zum Publikumsmagneten wird und ebenfalls noch erhalten ist), ist im angedeuteten Zusammenhang insofern beeindruckend, als hier mit der Landnahme nicht nur das nationsstiftende Ereignis der ungarischen Geschichte gezeigt wird; eine Relevanz, die auch der – einem Herrn Orbán gewiss sehr liebe – Spezialist für »Landtreter«, »Meerschäumer« und »Führertum«, Carl Schmitt, bemerkte:
Ich erwähne die Magyaren besonders, weil in Ungarn die Erinnerung an die Landnahme (895 n. Chr.) besonders stark und dort, zum Unterschied von anderen Ländern, auch das Wort für Landnahme honfoglalás lebendig geblieben ist.
Aus heutiger Sicht ist überdies auch der Umstand, dass mittlerweile ein ganzer nationalistischer Themenpark um das Panorama herum errichtet wurde, ein nicht unwesentlicher Indikator. Es handelt sich dabei um Verkettungen, um die Generierung eines neuen Lieu de mémoire; offensichtlich braucht man diesen. (Was man in Transleithanien weniger braucht, ist eine mit Klaus Theweleit im Lesegepäck unternommene Re-Lektüre der Geschichte der Prinzessin Emese und des Turul-Vogels.)
Georg Schmid hat 2002 bei einem Vortrag am IFK/Wien unter Bezugnahme auf Pierre Nora, in dessen Werk nebenbei bemerkt Bildmedien wie das Kino keine Rolle spielen, das Problem der Definition zu umreißen versucht:
Welche Bedingungen müssen also für die »Anteilnahme“« an lieux des mémoires gegeben sein? Jenseits des Nationalen und der Zufälligkeit von Geburt sind der Psychoanalyse zugängliche Momente dezisiv, und zwar vermöge der Eingebundenheit des jeweiligen Individuums in Kollektive gemäß einer Art soziokulturaler Prädisposition. Die signifikanten Momente der lieux hängen also mit Erinnerungsspuren zusammen, die sich auf den Gesamtbereich eines generellen Kulturmusters projizieren; die globale Überzeugungskraft der daraus erwachsenden Geschichtsbilder hängt von der ökonomisch-symbolischen Macht der Hervorbringerkultur ab.
Georg Schmid, cit. nach Tischvorlage, 2002
Hier stellen sich jedoch – so luzide die Beobachtung auch sein mag – mehrere Probleme erneut (u.a. weil sich diesen im Zusammenhang mit Pierre Nora kaum auskommen lässt), besser gesagt: ihre Komplexität erweist sich in einem anderen, womöglich schärfer justiertem Licht. Denn unvermittelt wird damit nicht nur die Frage nach Macht und Herrschaft reiteriert, sondern – auf einer weiteren Ebene – auch die nach der Materialität der Medien (wie sie etwa bei Borsó, Krumeich und Witte 2001 gestellt wird), d.h. nach den Bedingungen von Kommunikation und deren Konstruktionen. Folglich spielen Raum- und Zeitkriterien sowie damit zusammenhängende Fragen der sondierenden, auswählenden und letztlich ordnenden Wahrnehmung (des »Blicks«) eine elementare Rolle. Es geht also um Aspekte der Abgrenzung, der Ordnung und Selektion, in weiterer Folge auch um Konstruktionen von Identität bzw. um Authentizitätsstiftung. Deren Beziehung zu faktischen Geschehnissen und Erlebnissen ist komplex und wird sowohl bei der Enkodierung wie beim Abruf kulturell, sozial und situativ kontextualisiert und in jedem Fall emotional bewertet.