Schuwalkin

Die Potemkin-Geschichte – das Verhältnis von uns zu den Oberen und das Umgekehrte –

Benjamin, Aufzeichnungen (bis Juni 1934)

Potemkin
Es wird erzählt: Potemkin litt an schweren mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Depressionen, während deren sich niemand ihm nähern durfte und der Zugang zu seinem Zimmer aufs strengste verboten war. Am Hofe wurde dieses Leiden nicht erwähnt, insbesondere wußte man, daß jede Anspielung darauf die Ungnade der Kaiserin Katharina nach sich zog. Eine dieser Depressionen des Kanzlers dauerte außergewöhnlich lange. Ernste Mißstände waren die Folgen; in den Registraturen häuften sich Akten, deren Erledigung, die ohne Unterschrift Potemkins unmöglich war, von der Zarin gefordert wurde. Die hohen Beamten wußten sich keinen Rat. In dieser Zeit geriet durch einen Zufall der unbedeutende kleine Kanzlist Schuwalkin in die Vorzimmer des Kanzlerpalais, wo die Staatsräte wie gewöhnlich jammernd und klagend beisammen standen. »Was gibt es, Excellenzen? Womit kann ich Excellenzen dienen?« bemerkte der eilfertige Schuwalkin. Man erklärte ihm den Fall und bedauerte, von seinen Diensten keinen Gebrauch machen zu können. »Wenn es weiter nichts ist, meine Herren,« antwortete Schuwalkin, »überlassen Sie mir die Akten. Ich bitte darum.« Die Staatsräte, die nichts zu verlieren hatten, ließen sich dazu bewegen, und Schuwalkin schlug, das Aktenbündel unterm Arm, durch Galerien und Korridore den Weg zum Schlafzimmer Potemkins ein. Ohne anzuklopfen, ja ohne haltzumachen, drückte er die Türklinke nieder. Das Zimmer war nicht verschlossen. Im Halbdunkel saß Potemkin auf seinem Bett, nägelkauend, in einem verschlissenen Schlafrock. Schuwalkin trat zum Schreibtisch, tauchte die Feder ein und, ohne ein Wort zu verlieren, schob er sie Potemkin in die Hand, den erstbesten Akt auf seine Knie. Nach einem abwesenden Blick auf den Eindringling, wie im Schlaf vollzog Potemkin die Unterschrift, dann eine zweite; weiter die sämtlichen. Als die letzte geborgen war, verließ Schuwalkin ohne Umstände, wie er gekommen war, sein Dossier unterm Arm, das Gemach. Triumphierend die Akten schwenkend trat er in das Vorzimmer. Ihm entgegen stürzten die Staatsräte, rissen die Papiere aus seinen Händen. Atemlos beugten sie sich darüber. Niemand sagte ein Wort; die Gruppe erstarrte. Wieder trat Schuwalkin näher, wieder erkundigte er sich eilfertig nach dem Grund der Bestürzung der Herren. Da fiel auch sein Blick auf die Unterschrift. Ein Akt wie der andere war unterfertigt: Schuwalkin, Schuwalkin, Schuwalkin … 
Diese Geschichte ist wie ein Herold, der dem Werke Kafkas zweihundert Jahre vorausstürmt. Die Rätselfrage, die sich in ihr wölkt, ist Kafkas. Die Welt der Kanzleien und Registraturen, der muffigen verwohnten dunklen Zimmer ist Kafkas Welt. Der eilfertige Schuwalkin, der alles so leicht nimmt und zuletzt mit leeren Händen da steht, ist Kafkas K. Potemkin aber, der halb schlafend und verwahrlost, in einem abgelegenen Raum, zu dem der Zugang untersagt ist, dahindämmert, ist ein Ahn jener Gewalthaber, die bei Kafka als Richter in den Dachböden, als Sekretäre im Schloß hausen, und die, so hoch sie stehen mögen, immer Gesunkene oder vielmehr Versinkende sind, dafür aber noch in den Untersten und in den Verkommensten – den Türhütern und den altersschwachen Beamten – auf einmal unvermittelt in ihrer ganzen Machtfülle auftauchen können. Worüber dämmern sie dahin? Vielleicht sind sie Nachkommen der Atlanten, die die Weltkugel in ihrem Nacken tragen? Vielleicht halten sie darum den Kopf »so tief auf die Brust gesenkt, daß man kaum etwas von den Augen« sieht, wie der Schloßkastellan auf seinem Porträt oder Klamm, wenn er mit sich allein ist? Die Weltkugel aber ist es nicht, die sie tragen; nur daß schon das Alltäglichste ihr Gewicht hat: »Sein Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das Weißtünchen eines Winkels in einer Beamtenstube.« […]

Walter Benjamin: Potemkin. In: Ders.: Gesammelte Schriften II.2, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 409–416, hier S. 409f. (EA in der Jüdischen Rundschau v. 21.12.1934)

Apropos Unterschrift/en:

Querverweis 1: Legestachel (Jean Paul)
Querverweis 2: Handschlagqualität (Kein Unterschrift notwendig)


Benjamin hat die Anekdote (die er mehrfach verwendete) nicht ursächlich erfunden, vielmehr bei Puškin gefunden:

Potjomkin wurde oft von Niedergeschlagenheit befallen. Er saß ganze Tage allein, ohne jemanden vorzulassen, in völliger Untätigkeit. Einmal, als er in diesem Zustand war, hatten sich eine Menge Papiere angestaut, die seine unverzügliche Entscheidung verlangten; niemand aber wagte, bei ihm zum Vortrag einzutreten. Ein junger Beamter, mit Namen Petuškov, der davon reden hörte, erbot sich, dem Fürsten die nötigen Papiere zur Unterschrift vorzulegen. Mit Freuden händigte man sie ihm aus und wartete voll Ungeduld, was wohl daraus werden würde. Petuškov trat mit den Papieren geradewegs ins Kabinett. Potjomkin saß im Schlafrock, barfuß, unfrisiert, nachdenklich an den Nägeln kauend. Petuškov erklärte ihm tapfer, worum es sich handle, und legte ihm die Papiere vor. Potjomkin griff schweigend zur Feder und unterschrieb sie eines nach dem anderen. Petuškov verneigte sich und ging mit triumphierender Miene ins Vorzimmer hinaus. »Er hat unterschrieben!«… Alle stürzten auf ihn zu, sahen hin: alle Papiere waren tatsächlich unterschrieben. Man gratuliert Petuškov. »Teufelskerl! muß man schon sagen.« Aber jemand schaut sich die Unterschrift genau an – und was sieht er? auf allen Papieren steht statt: Fürst Potjomkin – die Unterschrift: Petuškov,Petuškov, Petuškov….

Aleksandr Puškin: Die Erzählungen einschließlich der Fragmente, Varianten, Skizzen und Entwürfe – mit Nachwort, Zeittafel und Anmerkungen. Übers. u. hg. v. Peter Urban. Berlin: Friedenauer Presse 1999, S. 294.

Oder: Vielleicht hat Benjamin die Anekdote gar nicht bei Puškin finden müssen, vielmehr hat Bloch sie ihm erzählt (NB: ein nicht unbedingt detailgenauer Nacherzähler, ein diesbezüglich prekär einzustufender), irgendwo in den Zimmerfluchten des Grand Hotel Abgrund:

Potemkins Unterschrift
Der Fürst Potemkin hatte Stunden, in denen er keinen zu sich ließ. Totenstill war es dann in seinem Zimmer, niemand wußte, was er trieb. Die Geschäfte ruhten und die Räte hatten gute Zeit, kein Vortrag fand statt, die Spitze war verhüllt. Einmal aber, als der Anfall ungewöhnlich lang dauerte, liefen grade die eiligsten Akten ein. Sie waren zwar ohne den Präsidenten zu erledigen, doch nicht ohne seine Unterschrift. Die Räte warteten in den Vorzimmern; keiner wagte es, vor den Fürsten zu treten, auf die Gefahr, seine Stelle zu verlieren oder verschickt zu werden. Bis ein junger Beamter, mit Namen Petukow, die große Chance seiner Karriere sah. Er holte das Aktenbündel und trat zum Präsidenten ein, mit einem Ruck, ohne anzuklopfen; Potemkin saß ungekämmt und völlig stier in einer Ecke des halbdunkeln Zimmers, kaute Nägel. Petukow legte die Schriftstücke wortlos vor, reichte dem Fürsten die Feder, und dieser nahm die Fäuste aus dem Mund, unterschrieb Verfügung nach Verfügung, mit Augen wie im Schlummer, eine um die andre. Der Beamte stürzte aus dem Zimmer: Triumph! DerFürst hat alles unterschrieben! – und zeigte die Akten. Kuriere eilten herbei, die Erlasse nach Moskau, Kiew, Odessa, zu den Generalgouverneuren zu bringen. Doch vor Schluß der Kassetten nahm ein älterer Beamter noch einmal den Akt heraus, der von seinem Ressort ausgegangen war. Stutzte, holte die übrigen Papiere, zeigte sie: gewiß, sie waren alle unterschrieben. Unter jedem Aktstand mit der Hand des Fürsten Potemkin: Petukow, Petukow, Petukow …
Puschkin, der so ähnlich das mitteilt, hat damit nicht nur das unheimlichste Dokument zur Melancholie geliefert, zu dem sich hintersinnenden Brüten, das im Nebel wühlt, zu dem Kopf im namenlosen Zwielicht, der den Namen Petukow nimmt, weil sich da wenigstens etwas regt, zu dem Kopf im Gallenlicht, das noch alle Namengrau machen kann, Petukow oder Potemkin, gleichviel. Sondern indem die Geschichte vom Fürsten Potemkin geht, dem glücklichsten Mann und Günstling, indem die Glücklichen überhaupt (nicht nur die Despoten) auf der Höhe ihres Lebens leicht melancholisch werden (die noch Ehrgeizigen und Glanzträumer sind leichter manisch), so zeigt sich, wie wenig Höhe es schon über dem Nebel gibt, der der Mensch ist, wie sein Name und Charakter oft nur wie eine Insel darin steht, eine vielleicht schon fester gehobene als die Potemkins, aber immer verfinsterbare und hebridenhafte, ja daß dieses, was man so schon Himmel nennt, sei er selbst nach den Maßen der glücklichsten Zeit gemalt, bei manchen auf die Dauer, worauf es ankommt, doch erst eine Pflanzschule von Blicken sein dürfte, die aus dem Nebel des Daseins, der Trauer der Erfüllung noch wenig heraus sind.

Ernst Bloch: Potemkins Unterschrift. In: Ders.: Spuren. Mit einem Essay v. Hans Mayer. Leipzig, Weimar: Kiepenheuer 1990, S. 119–121. (EA 1930)

Walter Benjamin bzw. Aleksandr Puškin bzw. Ernst Bloch und Potemkins Schuwalkin- bzw. Petuškov- bzw. Petukow-Unterschrift: allein Benjamin konnte es gelingen, ahnungsvoll die Treppe auf Kafkas Dachböden zu finden, den Process in einem derartig komplexen Zusammenhang wie der Unterschriftsleistung als wesentlich auf einen Punkt gebracht zu begreifen.

Vgl. weiters Neef 2008 – Handschrift, so eine zentrale These von Neef, rechnet immer schon mit ihrer Auslöschung. (Weshalb eben, s.o. pars pro toto betr. Jean Pauls »Legestachel«, nach Möglichkeiten gesucht wird, diese Gewährleistung auf Dauer zu sichern – und sei es, dass man dafür die Leistung einer Unterschrift mechanisiert bzw. die Einmaligkeit eines ›Originals‹ auf Serie schaltet; oder dass man die Unterschrift mittels »Handgelübde«, ohne jede Materialisierung, für geleistet erklärt.) Seit der eben auch materiell folgenreichen Überführung von Schriften aus der Handschrift am Papier in die alphanumerischen Serienschaltungen der Schreibmaschinen und Rechner, sei diese Doppelfigur von Abdruck/Spur (mal mehr nach der einen Seite hin, dann mehr von der anderen her erkennbar) wesentlich. Daran lässt sich die Beobachtung schließen, dass im Rahmen der Gewährung von Rechtssicherheit zumindest innerhalb bestimmter Fristverläufe die Erfordernisse des Bestands von Unterschriften garantiert sein müssen. Anders gesagt: eine elektronische Signatur muss – wie der gesamte Akt mit all seinen Referenzen (das ›Bündel‹) – bis zum Ablauf ihrer gesetzlichen Relevanz (im Kontext) Bestand haben. Die Koppelung von Unterschriften und Entscheidungsschwellen, daran wiederum sich knüpfend die Bedeutung von Akt-Erledigung-Schieber-Rekursion, macht Kafka in seiner Aktenkunde »Der Process« 1914/15, im bemerkenswerterweise fast ohne jede Korrektur in einem Zug verfassten Kapitel (-Heft) »Advokat. Fabrikant. Maler« (Kafka 1997), mittels der Figurenrede des »Malers« sehr deutlich (Kafka 1925/2008, S.195–289, ins. 266–283). Zentral sind Unterschriften im Akt, Entscheidungsbekundungen, die von einschlägig bestallten Personen stammen. (Der Spur dieser durchgängigen Handschrift folgend behaupte ich, dass dies auch der über den Rand der Parodiefähigkeit hinaus betreibbaren, jedenfalls völligen Vertrautheit des verwaltenden Juristen Kafka mit den Prozessvorschriften für Akten geschuldet war. In der Erzählung von derartigen Vorgängen, im Schreibprozess betreffend administrativer Kulturtechniken, erweist sich die im Bureau internalisierte Folgerichtigkeit der Abläufe als produktiv für die literarische Arbeit. Das lässt sich nicht nur am Beispiel Kafkas zeigen, auch – wie ich mehrfach zu beschreiben und zeigen unternahm – Musils erhaltene Handschriften zum »Mann ohne Eigenschaften«, in denen es um die Darstellung und Funktionalisierung bürokratischer Vorgänge und Abläufe geht, weisen derartige Schreibmuster – die Arbeit an und mit amtlichen Routinen – auf.)

Kafka, Franz (1925/2008): Der Prozess. Faksimilenachdruck der Erstausgabe des Buchdrucks von 1925, hg. v. Roland Reuß, Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld 2008.
Kafka, Franz (2017): Historisch-Kritische Ausgabe sämt­licher Hand­schriften, Drucke und Typoskripte: Der Process, 16 Hefte u. 1 Beiheft [Franz Kafka-Hefte 1], hg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle, Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern.
Neef, Sonja (2008): Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Berlin: Kadmos.