1940 unternahm John Steinbeck mit seinem Freund Edward F. Ricketts (1939 Between Pacific Times; Vorlage für die Figur des »Doc« aus Cannery Row/Die Straße der Ölsardinen), einem Meeresbiologen, und einer kleinen Besatzung eine sechswöchigen Fahrt über 4.000 Meilen durch den Golf von Kalifornien (aka Cortes-See), um die Uferzonen zu erforschen, die Gezeitentümpel, die Fauna an den unterschiedlichsten Abschnitten des Golfs. 1939 hatte er Grapes of Wrath/Früchte des Zorns veröffentlicht, 1942 wird The Moon Is Down/Der Mond ging unter erscheinen.
Eine erste Version des Reiseberichts der beiden erschien 1941 als Sea of Cortez, die der deutschsprachigen Ausgabe zugrundeliegende Ausgabe erschien 1951 als The Log from the Sea of Cortez.
Der folgende Ausschnitt ist dem 22. April 1940 zugeordnet, die Einträge ins »Logbuch« dem 3. und 5. April. (Es liest sich wie ein Abschluss; einen später datierten Eintrag von der Fahrt wird es nicht mehr geben & ich stelle mir gerade Elias Canetti bei der Lektüre vor.)
Wir hatten noch nie so fischreiche Gewässer erlebt. Im Licht, das die Oberfläche durchdrang, sahen wir, dass das Wasser fast nur aus Fischen bestand – schwärmend, hungrige, rasende Fische von unfassbarer Gefräßigkeit. Die Schwärme bewegten sich voran, ordneten sich, patrouillierten. Sie wendeten und tauchten als Einheit. Es waren Millionen, aber was Richtung, Tiefe und Tempo betraf, gehorchten alle einem genau geregelten Rhythmus. Wir begehen vermutlich einen Fehler, wenn wir diese Fische als Individuen betrachten. Sie funktionieren innerhalb des Schwarms rätselhafterweise wie eine Einheit. Wir werden diese Raffinesse erst verstehen, wenn wir den Schwarm als ein Tier auffassen, das mit all seinen Zellen auf Stimuli reagiert, die ein einzelner Fisch nicht verspürt. Und dieses größere Tier, der Schwarm, scheint ein eigenes Wesen zu sein, einen eigenen Antrieb und eigene Ziele zu haben. Er ist sowohl mehr als auch anders als die Summe seiner Teile. So betrachtet wäre es nicht mehr ganz so unglaublich, dass alle Fische mit dem Kopf in eine Richtung zeigen, dass der Abstand von Fisch zu Fisch stets gleich ist, dass der Einzelfisch von der Intelligenz des Schwarms gelenkt wird. Wenn der Schwarm selbst ein Einzeltier wäre, warum sollte er dann nicht als solches reagieren? Vielleicht ist es nur wilde Spekulation, aber wenn man den Schwarm als ein Tier und nicht als die Summe einzelner Fische untersuchen würde, dann könnte man vermutlich feststellen, dass bestimmte Einheiten bestimmte Aufgaben haben und schwächere oder langsamere Einheiten beispielsweise als Beute für Raubfische dienen, damit die Sicherheit des Schwarms als ein Tier gewährleistet bleibt. In der kleinen Bucht von San Carlos, in der sich diverse Schwärme mehrerer Arten aufhielten, war sogar eine noch größere Einheit spürbar (das Wort wird hier bewusst benutzt), die sich in der Vernetzung der Arten im Hinblick auf ihre gegenseitige Abhängigkeit von Nahrung äußerte, und sei es darin, dass sie einander fraßen. Ein größeres, gut funktionierendes Tier, das das Überleben innerhalb seiner selbst sichert – von Garnelenlarven über kleine Fische zu größeren Fischen zu riesigen Fischen –, ein Mechanismus, in dem alles ineinandergreift. Und vielleicht ist diese Einheit des Überlebens an ein noch größeres Tier gekoppelt, nämlich das Leben im gesamten Meer, und dieses wiederum an das globale Leben. Dann gäbe es nur ein einziges Gebot für Lebewesen: Überlebe! Und die Formen und Arten, Einheiten und Gruppen sind gerüstet, um zu überleben, sind zu diesem Zweck mit Reißzähnen bestückt, mit Vorsicht versehen, mit Ungestüm, Klugheit, Gift und Intelligenz. Dieses Gebot sieht Tod und Vernichtung von Myriaden Individuen vor, damit das Ganze überlebt. Das Leben kennt nur ein übergeordnetes Ziel, nämlich, am Leben zu bleiben; alle Tricks und Mechanismen, alle Erfolge und alles Scheitern dienen diesem einen Ziel.
John Steinbeck: Logbuch des Lebens. Aus dem Amerikanischen neu übersetzt und mit einem Vorwort von Henning Ahrens. Hamburg: Mare 2017, S. 264f.