Stifters Glacis

1841 war der damals 35jährige Adalbert Stifter den Südturm des Stephansdoms hinaufgestiegen (intertextuelle Bezugnahmen und Motivationslagen hinsichtlich Goethes Beschreibung und Besteigung des Straßburger Münsters in »Dichtung und Wahrheit« sind als durchaus beabsichtigt einzustufen) und hatte sich s/ein Rundbild von »Wien und die Wiener« erschrieben. Er hatte den Auftrag, für Gustav Heckenasts gleichnamigen Budapester Verlag den Band »Wien und die Wiener, in Bildern aus dem Leben« redaktionell und mit eigenen Texten zu betreuen – herausgekommen ist 1844 eine Anthologie mit Beiträgen von neun Autoren (dass die vier [!] unterschiedlich zugerichteten Editionen bei gleichem Satz auch denselben Frontispiz haben, mehrere als typisch angesehene Gestalten, rund um einen Daguerre-Apparat [!] positioniert, wird an anderer Stelle noch zu berücksichtigen sein). 

1858/59 wird Stifter die seiner (namentlich nicht gekennzeichneten) Vorrede folgende »Einleitung« von 1841/1844: »Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes«, einer intensiven Überarbeitung unterzogen und zusammen mit seinen anderen Beiträgen in »Aus dem alten Wien« als »Vom Sankt-Stephansturme« neu vorgelegt haben. An einer Passage soll die intensive Umarbeitung hier kenntlich gemacht werden. Rund um die Innere Stadt liegt das Glacis, liegen die alten Festungswerke. 1841 kommt der Erzähler aus der Vorstadt auf diese von Produktions- und Wohnstätten unberührte Fläche – einen Freiraum. Noch ist die Revolution von 1848 in weiter Ferne; erst recht die Umgestaltung des Glacis zur Ringstraße (ab 1865) und davor bereits der Abriss der alten Mauern (um 1858 waren die Spechte bereits am Werk). Der Blick auf das Glacis verändert sich quantitativ in der Beschreibungsdichte/-menge und qualitativ, indem er von beiden Seiten auf diesen Ring avant la Ringstraße gerichtet wird:

allerorts Drängen und Brausen, und Vergnügen und Freude, nur dem Fremdling will es einsam werden in dieser tosenden Wüstenei. Fast betäubt geht er weiter; mit einem male ist die Gasse zu Ende und auch die Stadt. Ein weiter grüner Platz voll Laubgrün und gepuzter Menschen steht vor ihm, aber jenseits wieder eine Stadt, die ewig unerreichbare Pappel wieder in ihrer Mitte tragend – Unverdrossen durchschreitet er den seltsamen Garten;

Adalbert Stifter: Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes, 1841/1844

Durch welche Gasse einer Vorstadt man aber auch der Stadt zugegangen sein mag, alle münden endlich an einem grünen freien Platze, der an vielen Stellen mit Reihen von Laubbäumen besetzt ist, nach allen Richtungen Pfade hat, auf denen sich geputzte Menschen bewegen, und jenseits dessen die eigentliche Stadt steht, welche die Stephanskirche und ihren Turm in der Mitte hat. Der freie Platz aber ist der gewöhnliche Spielraum, der um jede Festung herumlaufen muß und der auch um Wien als Festung herumlief. Seit die Festung durch Aufhören der Türkengefahr und durch Anwachsen der Stadt zu einer Weltstadt ihre größte Bedeutung verloren hat, ist der Platz als Erinnerung geblieben, verwandelt sich immer mehr in einen Garten und führt der Stadt einen Strom erneuerter, frischer Luft zu. Wenn man ihn überschritten hat, gelangt man zu einem der Tore der eigentlichen Stadt und durch dieses in sie selber.

Adalbert Stifter: Vom Sankt-Stephansturme, 1858/59

Der Teil gerade zu unseren Füßen ist die eigentliche Stadt. Wir sehen sie wie eine Scheibe um unsern Turm herumliegen, ein Gewimmel und Geschiebe von Dächern, Giebeln, Schornsteinen, Türmen, ein Durcheinanderliegen von Prismen, Würfeln, Pyramiden, Parallelopipeden, Kuppeln, als sei das alles in toller Kristallisation aneinandergeschossen und starre nun da so fort.

ibid.

wirf noch einen Blick weiter hinaus über die Grenzen der eigentlichen Stadt – siehe, dort ist ein seltsamer Garten, in den du gestern gelangtest, als plötzlich die lange Vorstadtgasse abbrach. Wie ein breiter grüner Gürtel läuft er um die Stadt herum, ein Glacis der Festung, nun in der Tat ein anmutiger Garten, mit grünen Rasenplätzen bedeckt, nach allen Richtungen von Alleen durchschnitten, ein wohltätiges Luftreservoir, dahin sich in der Abendkühle gerne und zahlreich die Bevölkerung ergießt, um sich zu ergehen und freier aufzuatmen.
Und jenseits dieses Gartens, in ungeheurem Kreise herumgeschlungen, breit hinausgelagert, liegt erst jene Masse, die dieser Hauptstadt eigentlich ihre Größe gibt, die Masse der Vorstädte, ich glaube, man zählt deren bereits fünfunddreißig – mit größtenteils sehr schönen Fronten stellen sie sich im Kreise gegen das Glacis auf, gleichsam in ihrem Hereinschieben gegen die Stadt hier an einer unsichtbaren Grenze anhaltend und sich weiter anstauend; denn weiter dürfen sie gegen den luftigen, gesundheitsbringenden Garten des Glacis nicht vordringen; aber dafür machen sie sich draußen breit und fressen immer weiter und weiter den Raum hinweg;

ibid.

durch eine Masse von Vorstädten, die gerade dort, wo das Glacis wegen kriegerischer Evolutionen und Festlichkeiten ohne Baumpflanzung gelassen ist

ibid.