Beim Verlag Vorwerk 8 ist mit der ISBN 978-3-947238-17-0 der erste Band einer neuen Reihe erschienen, die »Teilweise Musil. Kapitelkommentare zum ›Mann ohne Eigenschaften‹« zu publizieren sich vorgenommen hat und mit diesem – von Maren Lickhardt, Roland Innerhofer, Peter Plener und Burkhardt Wolf herausgegebenen – Band 1 »Eine Art Einleitung« bietet.
Was ist ein Kapitel? Eine erste Auskunft erteilt vielleicht die Wortgeschichte: Bis in die Neuzeit bezeichnete caput als »Haupt« oder »Hauptsache« ein alles bestimmendes Formprinzip, das seinen reichen Stoff im Wortsinn von capere»beherrscht« und »umfasst«. Capitale meint die »Kopfzahl einer Viehherde« oder eben das zinstragende »Kapital«, ganz so, wie es ein Textbestand erlaubt, mit seinen Bedeutungen (oder Verkaufszahlen) zu wuchern. Das ›Kap‹ markiert in der Topik des Reisens (und auch Schreibens) ein nur vorläufig und unsicher anzupeilendes Telos oder Motiv, das den weiteren Fortgang orientieren oder auch in die Irre führen kann. ›Kapitulieren‹ schließlich bezeichnet das Scheitern dieser Ansprüche auf Form, Fülle, Produktivität und Zielgerichtetheit.
Maren Lickhardt, Roland Innerhofer, Peter Plener und Burkhardt Wolf: Musils Kapitel. Eine Art Einleitung. In: Teilweise Musil. Kapitelkommentare zum »Mann ohne Eigenschaften«. Erster Band: Eine Art Einleitung. Berlin: Vorwerk 8 2019, S. 9–14, hier S. 9.
Was wäre, vor diesem Hintergrund, ein Kapitel im Mann ohne Eigenschaften? Musil war bereits seit 1904 mit Überlegungen zu seinem Romanprojekt beschäftigt. Bis zur (vorläufigen) Festlegung auf seine Figuren und Handlungselemente hat er nicht nur diverse Titel – wie Der Spion, Der Erlöser oder Die Zwillingsschwester – erwogen. Von 1922 bis 1926 hat er auch Frühfassungen des sechsten (zu Leona) und achten Kapitels (zu Kakanien) separat veröffentlicht. Deren Untertitel – Bild aus einem Roman, Ein herausgerissenes Blatt und Ein Fragment – verwiesen auf das bereits gesteckte, wenn auch noch unbestimmte Ziel des Romans. Ihre streng pointierte Form und ihre Themenfülle ließ sie zugleich als produktive Keimzellen eines umfassenderen Prosagebildes erscheinen. Tatsächlich kann man etliche der späteren Romankapitel als ›Monaden‹ verstehen, die gerade ob ihrer Abgeschlossenheit einen besonderen Gesichtspunkt auf das ganze Werk eröffnen. Als kleine Lesekabinette gewähren sie Zugang zu Musils unüberschaubarem ›Weltbuch‹. Doch anders als in Leibniz’ Monadologie unterstehen hier die einzelnen Kapitel keiner prästabilierten Harmonie mehr.
Kurzum: Eine Serienschaltung kündigt sich an und in nicht ferner Zukunft soll eine Anschlussfähigkeit in Gestalt von Bd. 2 (»Aktenzeichen MoE«) erwiesen werden.
Der vorliegende Band mit seinen 19 Beiträgen ist Ankündigung und Programm zugleich. Die vorgelegten Kommentare sind
[…] auf sachliche Genauigkeit verpflichtet, und dennoch genießen sie eine gewisse »Freiheit dem Gegenstand gegenüber«. Es handelt sich also um keine streng philologischen Kommentare. Doch machen sie, vom aktuellen Forschungsstand ausgehend, durch das Verfahren der ›teilweisen‹ Lektüre nicht nur die Eigentümlichkeiten jedes einzelnen Kapitels, sondern in ihrer Abfolge auch etliche Schwellen-, Transformations- und Verdichtungspunkte des Mannes ohne Eigenschaften sichtbar. Seine Exposition Eine Art Einleitung liefert zwar eine erste Aussicht auf ›das Ganze‹, doch keinesfalls dessen definitive »Ordnung der Ideen«. Gerade die ersten 19 Kapitel beanspruchen eigene Autorität, um diese implizit und im Übergang auf die Folgekapitel gleich wieder zu dementieren.
Ibid.
Zum Inhalt:
- Musils Kapitel: Eine Art Einleitung
- 1. Kapitel: Woraus bemerkenswerter Weise viel hervorgeht (Maren Lickhardt, Burkhardt Wolf)
- 2. Kapitel: Etwas folgt (Alexander Honold)
- 3. Kapitel: Nicht zu weit (Armin Schäfer)
- 4. Kapitel: Die Vermöglichung des Menschen (Burkhardt Wolf)
- 5. Kapitel: Institutionelle Autorität und hermeneutischer Widerstand (Christian Kirchmeier)
- 6. Kapitel: Perspektivische Verschiebungen zwischen Poetologie und Prostitution (Maren Lickhardt)
- 7. Kapitel: Anthropologische Auszeiten – Müdigkeit (Antonia Eder)
- 8. Kapitel: Das katechontische Erzählen (Burkhardt Wolf)
- 9. Kapitel: Abgesang auf den miles gloriosus (Matthias Bauer)
- 10. Kapitel: Zweiter Versuch. Ulrich wechselt das Pferd (Matthias Bauer)
- 11. Kapitel: Es war die Amsel und nicht die Nachtigall (Peter Plener)
- 12. Kapitel: Bonadea. Patho-chthonische Moden einer theatralen Seele (Antonia Eder)
- 13. Kapitel: Genies, Kentauren und Karrieristen (Burkhardt Wolf)
- 14. Kapitel: Vereinte Getrennte, oder: Das unbegreifliche Element der Freundschaft (Roland Innerhofer)
- 15. Kapitel: Von einem Ereignislein, einem Treppenwitz und seinem Vorspiel (Peter Plener)
- 16. Kapitel: Zeitenwandel ohne Urheber (Iulia-Karin Patrut)
- 17. Kapitel: Wie man seine Mutter zerlegt (Alexander Honold)
- 18. Kapitel: Komplexität und Verantwortung (Christian Kirchmeier)
- 19. Kapitel: Der Brief des Vaters oder: Der Indikativ als Imperativ und das leidige Futur Perfekt (Maren Lickhardt)
- Anhang