Theorie der Kanzleiordnung

Es wäre an der Zeit, eine Theorie der Kanzleiordnung zu schreiben (die selbstverständlich späterhin überschrieben und neu formuliert werden kann). Hier beziehe ich mich auf die Amtsinstruction der Bach-Regierung von 1855, Moriz Stubenrauchs daraus abgeleitetes zweibändiges Handbuch der Verwaltungs-Gesetzkunde aus 1857/58, Bram Stokers The Duties of Clerks of Petty Sessions (1879), Erich Kielmanseggs Kanzleireform (1906), Egbert Mannlichers Kanzleiordnung aus 1923 (für die Seipel-Regierung), die Kanzleiordnung der Kreisky-Regierung aus 1974, die Kanzleiordnung der Vranitzky-Regierung (1992), die Büroordnung der Schüssel-Regierung (2004).



Nicht allein, dass hier je spezifische soziale, politische und sozialpolitische Umstände mit in der Ziehung sind, je unterschiedlich formulierte Anforderungen an ›Staat und Verwaltung‹, durchaus distinkte Unterschiede in den vorgesehenen Medien(-nutzungen) festzustellen sind, auch sind die unterschiedlichen Laufzeiten zwischen den jeweiligen Verfügungen beachtenswert (und wer darauf hinweist, dass die nach dem Ende der großen Monarchie im kleinen Land massenhaft herumstehenden Schreibmaschinen, der für die Sozialstaatsverwaltung nach 1945 so wichtige Großrechner, die seit dem Xerox-Programm Star am Fließband produzierten PCs und die elektrifizierten Datenbanken wesentliche Begründungszusammenhänge darstellten, wird nicht nur falsch liegen).

(Ausgegangen wird von den Bestimmungen der genannten Kanzleiordnungen nach Vorträgen in Wien, Siegen und Berlin. Beschränkt bleibt die Sicht notwendigerweise, weil das Ausgangsmaterial keine anderen als die genannten Manuale darstellen – umgekehrt behaupte ich, dass sich meine Frage universaler stellen lassen. Wie ungeachtet all dessen füge ich noch die These hinzu, dass die Parameter von DEMON [Durchsetzung, Erzählung, Medien, Organisation und Notwendigkeit] und die zwofache Triangulation [mittels theoretisch unterschiedlicher Bedingungsgefüge wie PPP/Personal-Publikum-Politik als Grenzen der Verwaltung mit Adressatenbezug sowie tme/téchne-mēchanḗ-epistéme als Anforderungsprofil] betr. erfolgreicher Innovationen als Prognoseinstrumente und Kontrollfelder zugleich herhalten können.)

Kanzleiordnungen versuchen, weil sie sich als eben deren Verschriftlichung verstehen müssen, die administrative techné (Verbindung von Theorie und Praxis der Vor-Schriften und Fertigkeiten, der Ermöglichung und die Aufrechterhaltung notwendiger Handlungsketten des Verarbeitungssystems Zentralstelle) zu kalibrieren, eine einschlägige Disposition von epistéme (amtliche – mitgemeint auch die vorgängige – Wissenslehre gemäß Schemata und Ablauf, die Theorie der Handlungsketten) und mēchanḗ (amtliche Bewegungslehre, die Praxis der Handlungsketten und materialitätsorientierte Nutzung von Werkzeugen; d.h. auch Normierung der Nutzung von als zweckdienlich erachteten Medien) vorzugeben; das ist ihr Apriori: die der Abfassung einer Kanzleiordnung immer schon vorausgegangenen Wissensbestände und Muster. Diese sind die unumgängliche Vorbedingung (daher auch die grundlegende Relevanz von Change-Management, Übertragung von Wissen, Absicherung durch Referenzsysteme &c.), denn selbst ihre Änderungen referenzieren auf die Bedeutungen. Damit differenziert umzugehen ermöglicht erst, eine Actapoiesis (Autopoiesis unter den Bedingungen einer Administration, eines Machtregimes mit übertragbarem Regelregime, Verbundtechniken und Entscheidungskompetenz) beherrschbar zu denken.

(Damit sind eine Menge an Bedingungen genannt, ist gleichsam eine Überkomplexität in den Diensten zurechtwaltender Komplexitätsreduktion bezeichnet. Das erklärt auch, wie hoch die Anforderungen an eine gelingende Erzählung von Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit, von Rechtssicherheit und Regeltreue in jedem Akt, sind. Denn wie bewusst es den Verfassern [sic] ist oder auch nicht: natürlich produzieren sie ein Narrativ, das in seinen Grundzügen mit auf Reproduzierbarkeit nach außen hin ebenso wie auf Vermittelbarkeit in die eigenen Ausbildungsinhalte hinein angelegt ist.)

Was aber, um ins 21. Jahrhundert zu setzen, wenn in den Verwaltungsapparaten zwar die Kanzlei- und Büroordnungen weiterhin festgeschrieben werden, wenn zudem Loyalität, Professionalität und Disziplin weiterhin aufrecht sind – aber die »operative chains« (etwa im Rahmen einer ANT respektive Handlungsmacht/-agency) nicht mehr kulturtechnisch bestimmt werden können, sondern technisch funktional geworden sind, nicht bloß unter der Hand sondern unter der Oberfläche einem neuartigen Regime unterworfen sind: durchaus mit einem »Machine Habitus« (Airoldi 2022) versehen, aber in der Folge uneinsehbar auf eine eigene Sequenz und Handlungsabfolge hin sich taktend?! Was passiert in den nach algorithmisch vorgegebenen Koppelungen zu modulierenden Verbünden und Dokumentenmanagementsystemen, ist das noch als ein Apparat fass-, d.h. beobachtbar und begrenzbar?

Kanzleiordnungen (in Österreich mit jener von 2004 »Büroordnung« geheißen, wozu gesondert nicht wenig zu sagen wäre; früher gerne auch »Amtsinstruction« genannt) werden in der Regel nicht gesetzlich, sondern auf dem Verordnungsweg geregelt. Ihre rechtliche Grundlage stellt ein Paragraph wie der § 12 im Bundesministeriengesetz dar, der diese Verordnung als zu veranlassen in den Raum gestellt hat. Darauf bezieht man sich und ist schon im schönsten Recht. Diese Organisationsregime sind stets, so steht es geschrieben, der Aufrechterhaltung des Regelbetriebs verpflichtet und werden aus unterschiedlichen Gründen benötigt (manchmal auch aus all den folgenden):

  • Einheitlichkeit im Vorgehen – auch: Anschlussfähigkeit gegenüber anderen Behörden –, Vergleichbarkeit und damit juridisch funktionale Trennschärfen sollen sichergestellt werden.
  • Es trat ein umfassender Regimewechsel in Kraft – z.B. von der Monarchie zur Demokratie –, dessen inhaltliche Prämissen andere Organisationsmodelle und andere Kulturtechniken erfordern.
  • Es gibt neue juridische Instrumentarien, neue Organisationsabläufe, Umstellungen bei den anzuwendenden Medientechniken oder den Methoden der Geschäftszahl-Vergaben, die vereinheitlicht durchzusetzen sind.
  • Es muss Geld gespart werden, möglichst viele Bedienstete sind zu entlassen, die neu zu ordnenden Arbeitsabläufe (auch das: »Handlungsketten«) sollen die Aufrechterhaltung des Betriebs – ›Journaldienstfähigkeit‹ – gewährleisten.
  • Man bedarf solcher Vorleistungen, um in weiterer Folge die jeweiligen Geschäftseinteilungen der Zentralstellen derart justieren zu können, dass möglichst viele Günstlinge auf neue Positionen gehoben werden, während ›die anderen‹ expediert werden. (Es gibt dafür mehrere Möglichkeiten, die hier skizzierte Vorgangsweise ist jedenfalls eine der sicheren.)
  • Man will sich wichtig machen. 

Kanzleiordnungen erzählen in Inhalt und Form von Beschleunigung, der Einheit des Aktes (damit: von Rechtssicherheit), der Präzision der Erledigung, der Unterstützung durch die passenden, unbestechlichen Medien und die Verabschiedung allzu unsicher erachteter alter. Es wird von Entbürokratisierung, dem Sparen im System gesungen. Und das meint auch: Man immunisiert sich zweifach gegenüber dem Vorwurf, in Daten unterzugehen und behauptet, funktional zu bleiben.

Eine Theorie der Kanzleiordnungen berücksichtigt, dass Kanzleiordnungen von einer Auftragssituation her sich lesen lassen, regulär von medienwissenschaftlichen Laien verfasst werden, den Status juristischer Gebrauchstexte und bis in die 1970er Jahre hinein derart lange Laufzeiten haben, dass die Halbwertszeit die gesamte Berufslaufbahn gem. Regelsystem beschäftigter Beamt:innen und Vertragsbediensteten übertrifft. (Anders als technische Manuale oder temporär ausgegebene Regieanweisungen für Theateraufführungen.) Es sind Anweisungen, wie zu prozessieren ist – Kanzleiordnungen sind auch die in Verordnungen des Funktionierens, des Processes, gegossene Personalpolitik eines öffentlichen Dienstes – und es laufen bestimmte Erzählvorgaben bei der Abfassung mit (z.B. Beschleunigung, Entbürokratisierung, Bürgernähe, Transparenz, Referenzgewissheit, Schnittstellenoptimierung). Mit zu berücksichtigen: die jeweils erfolgende Feststellung des medientechnischen Repertoires; zudem: die Rede von der Einheit des Aktes an sich (= des jeweiligen) bleibt wesentlich unberührt – das transportiert auch ein spezifisches Rechtssicherheitsverständnis (Komplexitätsreduktion trifft Unsicherheitsabsorption). NB: Es wäre zu fragen, inwieweit die grundlegende Auffassung von der Inkorporierungskompetenz des Aktes und seiner je internen Inbeziehungsetzung von allem mit jedem (z.B. als ›Mediencontainer‹, was aber recht eigentlich nicht hinreicht angesichts der Linearisierung und Formalisierung aller Inhalte darin), wenn man will: des Vampyrhaften mit seinen Lochern und Referenzen und Ablagesystemen, nicht auch die Grundlage einer Systemtheorie (für arme Spiel- und Amtmänner) ist, insofern als diese ein Denken in kulturtechnischen Mustern der Verwaltung zur Voraussetzung hat. Eine Kanzleiordnung bewegt sich jedenfalls systemtheoretisch ›naturgemäß‹ innerhalb ihres Habitats: die Grenzen der Verwaltung (Publikum, Personal, Politik) sind die ihren. Die Adressierung von Kanzleiordnungen richtet sich notwendigerweise nach diesen und innerhalb derselben aus. 

Kanzleiordnungen sind – hinsichtlich der intendierten Narration – dem Verwaltungstempus des Futur II zuzuordnen: dass sie beauftragt, abgefasst, verfügt, dass dahingehend geschult und ihren Vorgaben entlang gearbeitet wird ist wesentlich eine Ansage pro futuro und dass dementsprechend gearbeitet, entschieden, expediert und angelegt worden sein wird. Kanzleiordnungen transportieren eine Vorgabe des Prozessierens und Verfahrens, der Handlungsketten und der erforderlichen Schnittstellen, sie regeln die Medienanwendungen, entlasten von Kreativitätsansprüchen und stellen ostentativ auf die gleichmäßige Behandlung aller Geschäftsstücke ab (wie die Inquisition, die für die ›peinlichen Befragungen‹ und Schuldfeststellungen Formulare einführte und ausfüllen ließ, um rascher und zugleich vergleichbar – simile/›Schimmel‹ – prozessieren und richten zu können). Im Gegensatz zur »Schreibszene« (Campe), die ein instabiles Ensemble aus Sprache, Instrumentalität und Geste umfasst, stellt die Kanzleiordnung ein stabiles Dispositiv in Aussicht und ist in ihrer ganzen Anlage darauf abgestellt, weder sich selbst zum Gegenstand der Reflexion zu nehmen, noch anderen (Dritten) diese Möglichkeit zu eröffnen. Für die Befolgung der Theorie der Kanzleiordnung-Vorgaben – allfällige historische, materielle und semantische Bedingungen werden auf Ewigkeit/Null gesetzt – wird eine Form stabiler Abstandhaltung (Abstinenz) zweiter Ordnung garantiert und insgesamt Rechtssicherheit in Aussicht gestellt. Kanzleiordnungen fordern nicht (und es würde dem Wesen juristischer Gebrauchstexte widersprechen), dass man sich die je angeführten Kulturtechniken aneigne, sie motivieren nicht dazu sich die jeweilige téchne für die mēchanḗzueigen zu machen: sie stellen vielmehr in Aussicht (mehrfache Adressierung), dass es so ist und dass so gearbeitet wird und dass derart alles rechtens funktioniert (die folgerichtig gegebene Unüberprüfbarkeit wird nicht als ontologischer Fehlschluss gewertet, sondern dient als Systemstabilisierung – it’s not a bug, it’s a feature). Kanzleiordnungen sind Überwachungsinstrumente ihrer selbst insofern, als sie mitbestimmen (sie sind eben auch ›Texte‹, strukturierend wie strukturiert, prozessgeneriert wie prozessgenerierend), wie sie sich beobachten, lesen lassen. Davon ›wissen‹ sie jedoch ebenso wenig wie ihnen die Reflexionsebene ermangeln muss, dass sämtlichen von ihnen platzierten Medien und -techniken und -nutzungen genau die gleiche basale Eigenschaft zukommt (das ist der Kanzleiordnung die zumindest zweifache analytische Aporie ihrer selbst; weitere sind nicht auszuschließen). 

Sie in ihren Setzungen als Texte zu lesen, durchaus unter Berücksichtigung der ›blinden Stellen‹ (erkannt und analysiert als funktional notwendig), ermöglicht Muster ihrer Erzählweisen zu erkennen (administrative pattern recognition) und das vorgestellte »stahlharte Gehäuse der Hörigkeit« (Webers Zweckrationalität in Verwaltung und Kapitalismus), das eben auf dem Fundament einer »normativen Kraft des Faktischen« (cf. Jellineks Allgemeine Staatslehre) aufsitzen mag, umfänglich in seiner ›Gemachtheit‹ zu bestimmen. Das ist insofern keine bloße Spielerei für die Kaffeepause am Ende des Amtsganges, da Kanzleiordnungen neben den genannten noch eine weitere wesentliche Eigenschaft zukommt: Sie funktionieren.Wenn nun die Parameter des DEMON – auch als Instrumentarien für robuste Prognosefähigkeit vorweg – für Innovation in der Verwaltung (und erlassene Kanzleiordnungen, Justierungen des Apparats, sind solche), die Bestimmung ihres Erfolgs (oder Misserfolgs), herangezogen werden, wenn die »Grenzen der Verwaltung« (im komplexen wie notwendigen Gleichgewicht nach Luhmann) zu berücksichtigen sind und wenn tme (téchne, mēchanḗ, epistéme)-Anforderungen unabdingbar zu reflektierende darstellen, wird deutlich, dass eine Kanzleiordnung für administrative Verfahren des 21. Jahrhunderts scheitern muss, sofern sie nach überlieferten respektive bisherigen Kreationsregeln verfasst wird: Ohne eine über das Gesagte hinausgehende – vertiefende – Berücksichtigung der Bedingungen von Digitalisierung (Jurist:innen können den Machine Habitus der Algorithmen eines Dokumentenmanagements nicht dingfest machen, selbst wenn sie diesen erkennen könnten; Programmierer:innen können das juristische Kriterium der Entscheidung nicht als beobachtbar im Sinne einer zweiten Ordnung einschreiben, selbst wenn sie sich über die Emergenzeffekte der Medienverbünde im Klaren wären) und der fortlaufenden Rückkoppelung an Anforderungen eines Gesellschafts- (Wirtschafts-/Sozial-) und Verwaltungssystems, d.h. Sicherstellung von Rekursionsfähigkeit und Acta-poiesis/Process (ja, Kafka) – i.e. die schreibentscheidende Autopoiesis des Amtes – in einem, wird es – nun ja: – kritisch. (Digitalisierung bedeutet auch: Ein Dämon ist in den Apparat gefahren und kann nicht mehr einfach belangt werden.)