(aus etwas älteren Notizen)
Dem Polizeipräsidenten von Wien, Franz von Stejskal, wird der Ausspruch zugeschrieben: »Endlich hab’n wir an’ Ort, wo wir alle Gauner finden werden. Bis jetzt hat die Polizei die größte Arbeit g’habt. Wir hab’n in allen Bezirken suchen müss’n. Hoffentlich finden wir jetzt alle Gauner in Venedig in Wien.« (Cit. Rubey, Norbert / Schoenwald, Peter: Venedig in Wien: Theater und Vergnügungsstadt der Jahrhundertwende. Wien: Ueberreuter 1996, p.65.)
Davon ließen sich nur wenige abhalten, gleich in der ersten Saison kamen im Schnitt 20.000 Besucher, am Ende hatten mehr als zwei Millionen das neue Vergnügungsviertel aufgesucht, das auch in den kommenden Jahren prosperieren sollte.
Ein erstes Unternehmen dieser Art war 1890 in London entstanden, jedoch nur in Form eine Wasserbühne mit einem gemalten Prospekt des Markusplatzes, 1894 folgte ein ähnliches Projekt in Berlin, hier konnte der Besucher schon in eine Stadt »eintreten« auch gab es Kanäle mit Gondeln. Es fehlte aber dieser Inszenierung an so etwas wie ›Einheitlichkeit‹, so mischten sich etwa italienische und venezianische Elemente.
Der Theatersekretär Gabor Steiner entwickelte das Projekt »Venedig in Wien«, seine Mitstreiter waren der Architekt Oskar Marmorek und der Ingenieur Gustav Bruck, der in weiterer Folge für die Planung und Realisierung der Wasserkanäle zuständig war. Als Standort für das Projekt wurde der »Kaisergarten«, am Eingang des Praters zwischen Ausstellungsstraße und Hauptallee gelegen, gewählt. Der Wiener Gemeinderat bewilligte 1895 die Errichtung.
Im März 1895 wurde mit den Bauarbeiten begonnen. Von der etwa 50.000 m2großen Fläche wurden 5.000 m2verbaut, die Kanäle mit einer Gesamtlänge von mehr als einem Kilometer und einer wechselnden Breite von fünf bis 18 Metern erweiterten sich schließlich zu einem Bassin von nahezu 1.000 m2und bedeckten eine Wasserfläche von ca. 8.000 m2. Die Fassaden berühmter Bauten und Paläste Venedigs wurden möglichst orginalgetreu kopiert, die dazwischenstehenden Gebäude sozusagen »venezianisch« nachgebildet. Die Bauten waren keine Theaterdekorationen, sondern tatsächlich betretbare Häuser, deren Innenräume als Verkaufsläden, Ausstellungsräumen oder Gaststätten genutzt wurden. In Venedig bestellte Steiner Gondeln, die etwas kürzer sein mussten als die Orginalgondeln, er engagierte Gondolieri, Sänger und Musikanten. Am 22. Mai 1895 wurde »Venedig in Wien« eröffnet, am Ende der Saison wurden 2 Millionen Besucher gezählt, die Einrichtung passte perfekt in eine Zeit der Inszenierungen, in der sie auch ihre Konkurrenten hatte:
Trotz aller künstlerischen Ambitionen mußte ich aber mit Betrübnis konstatieren, daß die »Aschanti« im Tiergarten eine stärkere Anziehungskraft ausübten als mein schönstes Programm. Die »Aschanti« waren in Wien populär! Arm und reich, Volk und Adel, alles strömte in den Tiergarten, um sich die schwarze Gesellschaft anzusehen. Man hatte ja schon oft genug Schwarze gezeigt, aber Wien hatte nie soviel Interesse für eine Völkerschau aufgebracht, wie für diese »Truppe«! Freilich erzählte man sich Schauergeschichten, von denen aber doch ein Teil der Wahrheit entsprach! Während sich die Herrenwelt für die »Aschanti-Weiberl« nicht zu interessieren schien, war ein Teil der Wienerinnen – gottlob nur ein kleiner Teil – geradezu toll nach den »schwarzen Gesellen«, die mit Geld und Geschenken von der Damenwelt überhäuft wurden. Man erzählte viel von den galanten Abenteuern der schwarzen Kavaliere, von denen ja so vieles erfunden zu sein schien, aber einiges weiß ich aus positiver Quelle, nämlich von den Herren des Praterkommissariats. So hat man einmal eine Hofrätin in einer Seitenallee des Praters mit einem Neger in sehr verfänglicher Situation erwischt und die Ärmste mußte dem Wachorgan auf das Kommissariat folgen. Man behauptet auch, daß »Schwarz-weiß« im darauffolgenden Winter mancher Maid nachgewiesen worden sei! Aber gerade diese Aventuren machten die Wiener neugierig, und die Witzblätter sowie die Volkssänger trugen das Ihrige dazu bei, diese unappetitlichen überriechenden Negerdandys interessant zu machen. Offen gestehe ich, daß ich mich über diese schwarze Invasion sehr geärgert habe.
Gabor Steiner in »Illustrierte Wochenpost« v. 5.12.1930; Steiner ließ 1896/97 auch das Riesenrad errichten.
Als nach 1901 die venezianischen Fassaden zunehmend umgerüstet und die Bauten nachgenutzt wurden, das Dispositiv verändert wurde, da die Besucher:innen nach fünf Jahren ausblieben, verschwanden auch die Kanäle. Das Gebiet wurde nun wieder »Englischer Garten« genannt und es entstand 1902 »Die Internationale Stadt« mit Nachbildungen von Gebäuden aus aller Welt, 1903 »Die elektrische Stadt«. 1908 fand ein weiterer Umbau des Gebietes durch die Architekten Neumann, Tropp & Bruder statt. Im September 1912 endet auch jeder Gedanke an eine Neubelebung von »Venedig in Wien« mit dem Konkurs von Gabor Steiner. Die Wiener:innen erinnerten sich jedoch auch fürderhin gerne an den Ort vergangener Lustbarkeiten, so Karl Kraus:
Ein Weib (puterrot, im Laufschritt): Fenädig pompatiert!
Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. III. Akt, 1. Szene. Cf. dazu die noch weitaus weniger abgeklärte Haltung Kraus’ in Nr. 14 der »Fackel« vom August 1899, p.20-22; cf. weiters Nr. 9 vom Juni 1899 und Nr. 110 vom Juli 1902.
Der dritte Offizier: Was ruft die? Venedig –?
Der zweite: Bin auch erschrocken – bist auch erschrocken – weißt es is nur das andere.
Der dritte: Ah so.
Apropos »Die Letzten Tage der Menschheit«: 1916/17 werden für die Schützengraben-Ausstellungen im Wiener Prater die alten, damals so solide gemauerten Kanäle »Venedigs« wieder ausgegraben: die Laufgräben und tiefer gelegten Unterstände dieser Schau, die der Beförderung patriotischer Gefühle an der Heimatfront dienen sollte, verlief sehr exakt in diesen damals der Lustbarkeit zugedachten Bahnen.