Verlesen

Betreffend das Filet № 69 des Moby-Dick gibt es ho. bereits 1, 2 Einträge, über Gespenster & Medien lässt sich auch etwas nachlesen; in der Neueren Rundschau erschien die Printfassung mancher Überlegungen dazu (Kapitel 69: The Funeral. Wahrschau und Geister. In: Neue Rundschau H. 3/2022, S. 91–98). Dann passiert ein Fehler: man liest weiter, etwa dies hier:

Die eigentliche Unstetigkeitsstelle liegt jedoch am Ziel der Reise. Die Insel mit den zwei Namen, auf der Vernes Verschollene schließlich gefunden werden, wurde auf den englischen und deutschen Seekarten als »Maria Theresia«, auf den französischen als »Tabor« eingetragen, nachdem Asaph P. Taber, Kapitän des Walfängers Maria Theresa aus New Bedford, Massachusetts, in seinem Logbuch die Sichtung von Brandungswellen bei 37° südlicher Breite und 137 westlicher Länge eingetragen hatte. Das glaubten jedenfalls die Ozeanographen zu lesen, als sie das Logbuch auswerteten. Tatsächlich scheint dort, wo sie »breakers« gelesen haben, »breaches« gestanden zu haben. Aus dem Blasen von Walen ist so das Brechen von Wellen geworden und aus einem Wal eine Insel. Kein anderer Navigator hat sie seitdem wiedergefunden, aber so schnell die vermeintliche Insel auf den Karten aufgetaucht war, so lange dauerte es, bis sie wieder von ihnen verschwunden war. Dass Verne seine Verschollenen auf einer Phantominsel hat stranden lassen, ist eine Ironie, die ihm selbst nicht bewusst werden konnte.

Wolfgang Struck: Flaschenpost. Ferne Botschaften, frühe Vermessungen und ein legendäres Experiment. Hamburg: Mare 2022, S. 196f.

Wie hier (im Auflösungsteil 4) angedeutet, befindet sich das fehlerhafte Auslesen des richtig Eingeschriebenen von 1843 (eigentlich hat das Ganze also – worauf Struck in einer Fußnote verweist – mit Jules Vernes Roman Die Kinder des Kapitän Grant von 1868 zu tun, mit Nachforschungen eines Bernhard Krauth, eines Andreas Fehrmann) in einem Naheverhältnis zu Melvilles Moby-Dick von 1851:

Nor is this the end. Desecrated as the body is, a vengeful ghost survives and hovers over it to scare. Espied by some timid man-of-war or blundering discovery-vessel from afar, when the distance obscuring the swarming fowls, nevertheless still shows the white mass floating in the sun, and the white spray heaving high against it; straightway the whale’s unharming corpse, with trembling fingers is set down in the log—shoals, rocks, and breakers hereabouts: beware! And for years afterwards, perhaps, ships shun the place; leaping over it as silly sheep leap over a vacuum, because their leader originally leaped there when a stick was held. There’s your law of precedents; there’s your utility of traditions; there’s the story of your obstinate survival of old beliefs never bottomed on the earth, and now not even hovering in the air! There’s orthodoxy!

MD 69 (248)

Beziehungsweise, wie es Matthias Jendis übersetzte:

Doch das ist noch nicht das Ende. Auch wenn der Leib geschändet ist, ein rächender Geist hat überlebt und schwebt nun über ihm. Wird aus der Ferne er erspäht, von einer furchtsamen Fregatte oder einem verirrten Segler auf Entdeckungsfahrt, und die Entfernung schluckt die Vogelschwärme, so ist doch noch der weiße Rumpf zu sehen, der in der Sonne leuchtet, wie auch die weiße Gischt, die hoch an ihm emporschießt – flugs wird der harmlose Walkadaver mit zitternden Fingern im Logbuch vermerkt: Wahrschau, hier Untiefen, Felsen und hohe Brandung! Womöglich meiden Schiffe diesen Ort auf Jahre; sie überspringen ihn, wie dumme Schafe eine Leere überspringen, nur weil ihr Leithammel gesprungen, als man ihm ein Stöckchen vorgehalten hat. Da habt ihr euer Gesetz der Präzedenz, da habt ihr die Nützlichkeit des Überlieferten, da habt ihr die Geschichte eurer hartnäckig fortlebenden Glaubenssätze, die nie auf festem Boden gestanden haben und heute nicht mal mehr in Lüften schweben! Da habt ihr eure Orthodoxie!

MD 69 (491)

Noch während der Korpus abdriftet, transformiert sich seine Bedeutung, und hat der vielfach »geschändete« (491) Leib schon keine »Decke« mehr, so schwebt doch »ein rächender Geist« (491) über ihm – einer der Fehllektüren und Missverständnisse. (Derartige Umdeutungspotenziale mit einer Ausdifferenzierung von Erstem und Zweitem Tod lassen sich nach Lacan (vgl. Jacques Lacan: Das Seminar, Buch VII [1959–1960]. Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin 1996) als notwendigerweise angelegt verstehen. Während der Erste noch für den physischen Tod stehe, markiere der Zweite jenen »Punkt, an dem selbst der Zyklus der natürlichen Transformationen sich in nichts auflöst.« (Ebd., S. 299) Der Raum zwischen beiden lässt sich neu besetzen. Dass Lacan den Ersten Tod bei Freud entlehnt und den Zweiten der Offenbarungdes Johannes entnommen haben dürfte (Kapitel 20 und 21, wo es um die vollständige Auslöschung geht, bei der kein Zeichen und kein Rest mehr bleibt), würde nahelegen, die Möglichkeit der Metamorphose und Fehlinterpretation eben zwischen die beiden Tode zu setzen. Ishmaels Erzählung von einer »Bestattung« stellt dann keinen Endpunkt dar und lässt sich als immerwährender Übergang doppelbödig, auch: ironisch, lesen.)

Denn der »harmlose Walkadaver« (491) leuchtet in der Sonne weiß und erscheint aus der Ferne, dem, der keine Kenntnis der Vorgeschichte hat, zusammen mit der Gischt, die die Haie beim gierigen Zerfetzen des Leibes hochschießen lassen, als Gefahr. Derart wird der Kadaver Nicht-Walfängern wie einer »furchtsamen Fregatte« oder einem »verirrten Segler auf Entdeckungsfahrt« (491) Anzeichen einer Untiefe oder eines Felsens in der Brandung sein, dessen Position sogleich »mit zitternden Fingern im Logbuch« (491) oder in den Periploi für die Segler entlang der Küste eingetragen wird. (Weshalb es diese Felsriffe inmitten des Meeres geben sollte, ist ebensowenig zu klären wie die Frage, woher die raubgierigen Vögel kommen – und insofern könnte man die Stelle als einen küstennahen Witz Melvilles einstufen. Was für die Walfänger sich aus der Anwendung einer Technik ergibt, stellt sich für die anderen als tektonisches Ereignis dar. Diese ›anderen‹ stellen obendrein eigenwillige Oxymora dar: ängstliche Kriegsschiffer und irrende Entdeckungsreisende zur See. Mit diesem ironischen Schlenker aus der Sicht des einstigen Walfängers Melville werden derartige Signalempfänger, die in Ermangelung einschlägiger Erfahrung und daraus ableitbaren kognitiven Wissens die abgezogenen Walleiber falsch verstehen müssen, als unzuverlässige Interpreten der See und ihrer Erscheinungen ausgewiesen. Eine doppelte Pointe ist darin zu ersehen, dass künftig auch Logbücher studierende Walfänger die scheinbar gefährlichen Riffe meiden dürften, sodass Wale hier am Meeresfriedhof zunehmend ungestört leben könnten. Damit würde die Kartierung der cetologisch bedeutsamen Seegräber zum Schwarzbuch, zur Negativfolie der Karte von den weltweiten Walrouten und -fanggründen, wie sie – so wie Melville seinen Moby-Dick – 1851 Matthew Fontaine Maury auf Basis der Erfolgsmeldungen in den Log- und Fangbüchern der Walfänger herausbrachte.)

Melvilles Ishmael berichtet also im Kapitel »The Funeral«, im Zuge seiner über viele weitere Kapitel sich erstreckenden Obduktion eines beispielhaften gejagten, erlegten und zerteilten Wals, von einer immer noch stattlichen Leiche, der Verschiedenes nachgesagt wird, ohne dass die Urteile Dritter frei von Vergänglichkeit und Einseitigkeit sein könnten, denn sie basieren auf je individuellen Signalen und fehlenden Informationen (sie haben zwangsläufig Moby-Dick nicht gelesen).

— alles weitere dazu findet sich, wie angedeutet, als Kapitel 69: The Funeral. Wahrschau und Geister. In: Neue Rundschau H. 3/2022, S. 91–98 —

Wenn nun bereits 1843/44 eine derartige Fehllektüre auftrat und bekannt wurde, sintemal in einem engen Zusammenhang mit einem Walfänger aus New Bedford, durch die Gazetten wie eine Anekdote verbreitet wurde, muss sich spekulieren lassen, dass zwar vielleicht nicht (wie Wolfgang Struck auch anmerkt) Jules Verne derart davon Kenntnis nehmen konnte, sondern vielmehr es Herman Melville war, der – etwa 1844 bei seiner Rückkehr nach Auslaufen auf einem Walfänger und Desertion – das alles erfuhr. Zumindest ist es ein und derselbe Oktober 1844.

Und wenn das alles – zusammengelesen durch Zufall und zusammengehalten durch eine Spekulation – soweit funktioniert und stimmig wird, d.h. ich mich nicht verspekuliert und verlesen habe, segelten »some timid man-of-war or blundering discovery-vessel from afar« (die »furchtsame Fregatte oder ein verirrter Segler auf Entdeckungsfahrt«) gleichsam unter französischer Flagge, mitsamt diesen Eigenschaften und einer daraus abgeleitet eigenwilligen Kartenproduktion.