Oskar Maurus Fontana im Gespräch mit Robert Musil, 30. April 1926. In: Die Literarische Welt Nr. 18 (1926), S. 1
Der Interviewer: Ihr neuer Roman –? Er heißt?
Oskar Maurus Fontana / Robert Musil: Was arbeiten Sie? In: Die Literarische Welt Nr. 18 (30. April 1926), S. 1 bzw. Robert Musil: Gesamtausgabe Bd. 11: In Zeitungen und Zeitschriften III. Unselbständige Veröffentlichungen 1925–1938. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2021, S. 84–89.
Musil: Die Zwillingsschwester.
Der Interviewer: Zeit?
Musil: Von 1912 bis 1914. Die Mobilisierung, die Welt und Denken so zerriß, daß sie bis heute nicht geflickt werden konnte, beendet auch den Roman.
Der Interviewer: Was wohl als Symptom gewertet werden darf!
Musil: Gewiß. Wenn ich dabei den Vorbehalt machen darf, keinen historischen Roman geschrieben zu haben. Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht. Mein Gedächtnis ist schlecht. Die Tatsachen sind überdies immer vertauschbar. Mich interessiert das geistig Typische, ich möchte geradezu sagen: das Gespenstische des Geschehens.
Der Interviewer: Wo ist der Punkt, wo Sie ansetzen? Musil: Ich setze voraus: Das Jahr 1918 hätte das 70jährige Regierungsjubiläum Franz Josef I. und das 35jährige Wilhelm II. gebracht. Aus diesem künftigen Zusammentreffen entwickelt sich ein Wettlauf der beiderseitigen Patrioten, die einander schlagen wollen und die Welt, und im Kladderadatsch von 1914 enden. »Ich habe es nicht gewollt!« Kurz und gut: es entwickelt sich das, was ich »die Parallelaktion« nenne. Die Schwarzgelben haben die »österreichische Idee«, wie Sie sie aus den Kriegsjahren kennen: Erlösung Österreichs von Preußen – es soll ein Weltösterreich entstehen nach dem Muster des Zusammenlebens der Völker in der Monarchie – der »Friedenskaiser« an der Spitze. Krönung des Ganzen soll eben das imposante Jubeljahr 1918 bringen. Die Preußen wieder haben die Idee der Macht auf Grund der technischen Vollkommenheit – auch ihr Schlag der Parallelaktion ist für 1918 geplant.
Der Interviewer: Also eine sehr ironisch durchsetzte Materie. Aber ich möchte Sie zuvor nicht danach fragen, sondern lieber: Wie setzen Sie diese Umwelt resp. Umwelten in Bewegung?
Musil: Zuerst, indem ich einen jungen Menschen einführe, der am besten Wissen seiner Zeit, an Mathematik, Physik, Technik geschult ist. Dieser tritt in das Leben von heute – denn nochmals, mein »historischer« Roman soll nichts geben, was nicht auch heute Geltung hätte. Der also sieht zu seinem Erstaunen, daß die Wirklichkeit um mindestens 100 Jahre zurück ist hinter dem, was gedacht wird. Aus diesem Phasenunterschied, der notwendig ist und den ich auch zu begreifen suche, ergibt sich ein Haupt- thema: Wie soll sich ein geistiger Mensch zur Realität verhalten? Dem stelle ich eine Gegenfigur gegenüber: den Typus des Mannes größten Formats und oberster Welt. Er verbindet wirtschaftliches Talent und ästhetische Brillanz zu einer sehr merkwürdigen und bezeichnenden Einheit. Nach Österreich kommt er aus Berlin, um sich zu erholen – in Wahrheit aber, um in aller Stille seinem Konzern die bosnischen Erzlager und Holzschlagungen zu sichern. Im Salon der »zweiten Diotima«, der Gattin eines Präsidialisten, des Repräsentanten der altösterreichischen Weltbeglückung stößt er auf diese Frau. Zwischen beiden entwickelt sich nun ein »Seelenroman«, der im Leeren enden muß. Zugleich trifft der junge Mensch anläßlich eines Sterbefalls im Haus seiner toten Eltern seine Zwillingsschwester, die er bisher nicht kannte. Die Zwillingsschwester ist biologisch etwas sehr Seltenes, aber sie lebt in uns allen als geistige Utopie, als manifestierte Idee unserer selbst. Was den meisten nur Sehnsucht bleibt, wird meiner Figur Erfüllung. Und bald leben die beiden ein Leben, das der guten Gemeinschaft einer alten Ehe entspricht. Ich stelle die beiden mitten hinein in den Komplex der »Schmerzen von heute«: Kein Genie, keine Religion, statt »in etwas leben« – »für etwas leben« – lauter Zustände, in denen ich unsere Idealität äonisiere. Aber Bruder und Zwillingsschwester: das Ich und das Nicht-Ich fühlen den inneren Zwiespalt ihrer Gemeinsamkeit, sie zerfallen mit der Welt, fliehen. Aber dieser Versuch, das Erlebnis zu halten, zu fixieren, schlägt fehl. Die Absolutheit ist nicht zu bewahren. Ich schließe daran, die Welt kann nicht ohne das Böse bestehen, es bringt Bewegung in die Welt. Das Gute allein bewirkt Starre. Ich gebe dazu die Parallele mit dem Paar: Diotima und Wirtschaftsheld. Würde er keine Geschäfte machen, könnte er keine Seele haben; nicht wegen des Geldes, das man braucht, um sich eine leisten zu können, sondern weil das Heilige ohne das Unheilige ein regloser Brei ist. Auch diese Zweiheit ist bedingt und notwendig. Die Erzählung läuft dann weiter, indem ich den Kernkomplex: Liebe und Ekstase von der Wahnsinnsseite her aufrolle durch eine von der Erlösungsidee Besessene. Die Geschehnisse spitzen sich zu einem Kampf zwischen dem Alumnen eines neuen Geistes und dem Wirtschaftsästheten zu. Ich schildere da eine große Sitzung, aber keiner von beiden erhält das Geld, das zu vergeben ist, sondern ein General, Vertreter des Kriegsministeriums, das ohne Einladung einen Delegierten entsandte. Das Geld wird für Rüstungen aufgewandt. Was gar nicht so dumm ist, wie man gewöhnlich glaubt, weil alles Gescheite sich gegenseitig aufhebt. Aus Opposition gegen eine Ordnung, in der der Ungeistigste die größten Chancen hat, wird mein junger »Held« Spion. Sein spielerisches Interesse ist daran beteiligt und auch sein Lebensinhalt. Denn das Mittel seiner Spionage ist die Zwillingsschwester. Sie reisen durch Galizien. Er sieht, wie ihr Leben sich verliert und auch seines. Der junge Mensch kommt darauf, daß er zufällig ist, daß er seine Wesentlichkeit erschauen, aber nicht erreichen kann. Der Mensch ist nicht komplett und kann es nicht sein. Gallertartig nimmt er alle Formen an, ohne das Gefühl der Zufälligkeit seiner Existenz zu verlieren. Auch ihn, wie alle Personen meines Romans, enthebt die Mobilisierung der Entscheidung. Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige.
Der Interviewer (fasziniert von der Größe der Konstruktion, vermag in der Raschheit, zu der sein Amt verpflichtet, nur zu stammeln): Müssen Sie da nicht noch eine ganze große Anzahl von Hauptpersonen haben, um einen solchen Kreis ziehen zu können?
Musil: Ich komme mit etwa zwanzig Hauptpersonen aus.
Der Interviewer: Und fürchten Sie nicht bei der Struktur Ihres Romans das Essayistische?
Musil: Ich fürchte es schon. Ebendarum habe ich es durch zwei Mittel bekämpft. Zuerst durch eine ironische Grundhaltung, wobei ich Wert darauf lege, daß mir Ironie nicht eine Geste der Überlegenheit ist, sondern eine Form des Kampfes. Zweitens habe ich meiner Meinung nach allem Essayistischen gegenüber ein Gegengewicht in der Herausarbeitung lebendiger Szenen, phantastischer Leidenschaftlichkeit.
Der Interviewer: Trotzdem Ihr Roman seinen Personen nur den Kopfsprung in die Mobilisierung als Ausweg läßt, glaube ich ihn nicht als pessimistisch ansprechen zu sollen?
Musil: Da haben Sie recht. Im Gegenteil. Ich mache mich darin über alle Abendlandsuntergänge und ihre Propheten lustig. Urträume der Menschheit werden in unseren Tagen verwirklicht. Daß sie bei der Verwirklichung nicht mehr ganz das Gesicht der Urträume bewahrt haben – ist das ein Malheur? Wir brauchen auch dafür eine neue Moral. Mit unserer alten kommen wir nicht aus. Mein Roman möchte Material zu einer solchen neuen Moral geben. Er ist Versuch einer Auflösung und Andeutung einer Synthese.
Der Interviewer: Wo ordnen Sie Ihren Roman in die zeitgenössische Epik ein?
Musil: (taumelt wie unter einem gutplazierten Kinnhaken und hat nur noch die Kraft, zu sagen) Erlassen Sie mir die Antwort.
Der Interviewer: (beharrt darauf und beginnt auszuzählen, in der Hoffnung als »Vertreter der Presse« im Finish zu siegen. Aber)
Musil: (der Champion der geistigen Boxkämpfer schlägt den Interviewer knock-out) Wo ich meinen Roman einordne? Ich möchte Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt geben. Auch durch den Roman. Ich wäre darum dem Publikum sehr dankbar, wenn es weniger meine ästhetischen Qualitäten beachten würde und mehr meinen Willen. Stil ist für mich exakte Herausarbeitung eines Gedankens. Ich meine den Gedanken, auch in der schönsten Form, die mir erreichbar ist.
Oskar Maurus Fontana
Walter Fanta hat im Nachwort zu Bd. 11 der GA (S. 601f.) darauf aufmerksam gemacht, wie diese Selbstäußerungen Musils, die in enger Absprache mit seinem Freund Fontana entstanden sein dürften, einzuschätzen sind:
Das Gespräch mit Musil ist als einziges als Interview [Der zehnteiligen Reihe »Was arbeiten Sie?«; Anm.] im Spiel von Frage und Antwort dargestellt; außerdem sprach nur Musil ausschließlich und ausführlich über ein konkretes neues Projekt, seinen Roman Die Zwillingsschwester, den er zwar nicht ausdrücklich als fertig bezeichnete, von dem er aber so sprach, als hätte er ihn bereits geschrieben. Tatsächlich hatte Musil 1925 nur einen ersten Teil des Manuskripts an den Rowohlt-Verlag geliefert, und alle Hinweise aus der Korrespondenz und dem Nachlass deuten darauf hin, dass er zur Zeit des Interviews mit Fontana bereits im Begriff stand, dieses Romanprojekt abzubrechen, um Ende des Jahres 1926 neu anzusetzen. Ab Anfang 1927 trug der Roman bereits den Titel Der Mann ohne Eigenschaften. Das Interview mit Fontana stellt eine der wichtigsten Selbstäußerungen Musils zu seiner Romanarbeit und zu seiner Romanpoetik dar. Musil präsentiert im Prinzip nicht eine Rückschau auf bereits Geleistetes, sondern eine Vorschau auf den großteils erst zu schreibenden Roman, dessen Konzeption im Interview in seinen grundsätzlichen Elementen sichtbar wird.