Das Kapitel I.44 des Mann ohne Eigenschaften ist das vierte von fünf, in denen die »Parallelaktion« (dem Kausalzusammenhang des Romans folgend die Bestrebung, zu den kaiserlichen Thronjubiläen 1918 »besser als Preußen« [I.44] beide Persönlichkeiten spezifisch zu würdigen) ihre von langer Hand vorbereitete erste Zusammenkunft erfährt. Sofern sich diese fünf Kapitel als Vorspiel, erster Teil, Pause, zweiter Teil und Nachspiel kennzeichnen lassen, stellt I.44 den zweiten Teil dessen dar, was auch als »großes patriotisches Unternehmen« oder »vaterländische Aktion« (beide erstmals I.22) bezeichnet und in I.21 erstmals beim Namen genannt wird, wenn es um »Die wahre Erfindung der Parallelaktion durch Graf Leinsdorf« geht.
Ho. interessieren besonders die Umstände des Beobachtens durch die Subalternen 1. Ordnung, Rachel und Soliman, durch »ein breites Schlüsselloch« (I.42), »durch einen Türspalt und die Einbildung« (I.44); das Geschehen der »Parallelaktion« erfährt eine zusätzliche Fokussierung. Diese wird im Text parallel zu den Besprechungen im Verhandlungszimmer gesetzt. Im Raum spricht General Stumm von Bordwehr im Treitschke-Sound von der Notwendigkeit militärischer Aufrüstung als Akt der Friedenssicherung; geschildert wird, wie sich während seiner Rede die Atmosphäre im Raum zum Einverständnis mit dem Schulterschluss verdichtet, vom »beruhigenden Marschtritt geordneter Bataillone« über den »Marsch vom Prinz Eugenius« bis zum »Heil dir im Siegerkranz«. Es erfolgt hierbei die Vorwegnahme dessen, was 1913 im real existiert habenden »k. und k. Ministerium des kaiserl. und königl. Hauses und des Äußern« durch Leute wie Sektionschef Rudolf Pogatscher (die Vorlage für Musils Sektionschef Hans Tuzzi) tatsächlich in Vorbereitung sich befindet und im Juli 1914 in die Tat umgesetzt werden kann: die Eröffnung umfassender Kriegshandlungen. (Dazu a.a.O.)
Vor dem Schlüsselloch eben die Zofe Rachel aus den ostjüdischen Gebieten der Monarchie, von »Diotima« »Rachelle« genannt, die Arnheims/Rathenaus aus Afrika stammenden Dienerknaben Soliman mit der Möglichkeit zu Augenzeugenschaft zu sich vors Schlüsselloch locken möchte; in einem Ab-Satz wird gebündelt, was die Generalsrede und die Atmosphäre im Raum bedeuten: »Am Schlüsselloch signalisierte ›Rachelle‹: ›Jetzt sprechen sie von Krieg!‹«
Das »Schlüsselloch« erzwingt ein Framing – wobei dieser Blick zum einen von dem begleitet wird, was Rachel durch die geschlossene Tür mithören kann; zum anderen ist es nicht einfach eine kinematische Perspektive. Zu ausschnitthaft ist, was Rachel und Soliman sehen/hören, zu sehr ist es eine Montage, sind es Bruchstücke des Geschehens. Und doch – das wäre die Pointe –, ist es ausgerechnet diese von ihrer Umwelt und ihrer Familie verstoßene junge Jüdin, die präzise auf den Punkt bringt, worum es mit der Rede Stumms von Bordwehr geht. In ihrem Kopf fügt sich alles zusammen. (Oder wie Musil 1926 in seinem Text Triëdere die Relevanz des Ausschnitthaften bereits herausstellt: »Das beste Mittel gegen einen anzüglichen Mißbrauch dieses weltanschaulichen Werkzeugs ist es, an seine Theorie zu denken. Sie heißt Isolierung.« Rachel vollzieht eine derartige Isolierung mehrfach: der Blick durchs Schlüsselloch wird in I.44 zusätzlich noch, verstärkend, mit dem Abtauchen unter das schwarze Tuch des Fotografen an der Kamera verglichen.)
Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten. So wird auch in der glashellen Einsamkeit alles deutlicher und größer, aber vor allem wird es ursprünglicher und dämonischer.
Musil, Triëdere
Der Blick durch das Schlüsselloch bietet ähnlich wie der Triëder eine Technik des ausschnitthaften Sehens an, die etwas dem sonstigen Blick Verborgenes zu enthüllen verspricht.
Es ist im konkreten Fall Rachels und Solimans ein verbotener Blick. Einer, der Wahrheit mit sich bringt, dabei auch noch durch eine akustische Besonderheit begleitet wird: das ausschnitthafte Hören. Beides, Bildausschnitte und unterschiedlich wahrzunehmende Formen der Rede, fügen sich als Montage. (Hier ließe sich mit Musils Freund Robert Müller und dessen Roman Camera obscura [1921], der »Bewußtseinsöse«, dem Muster des Detektivromans, den technischen Bedingungen einer Camera obscura, Vergleichbarkeiten mit dem menschlichen Wahrnehmungsapparat, oszillierenden Wahrnehmungsformen et cetera extemporieren. Dies soll jedoch a.a.O. geschehen; ein Zitat jedoch im Sinne der Anschlussfähigkeit der Überlegungen:) »Das schöpferische Fabriksgeheimnis, das Arkanum war, die Dinge nicht hintereinander, sondern gleichzeitig, ahndevoll zu sehen, wie im Traum placiert, ineinander, auseinanderfaltbar wie ein Fächer, simultan.« Dieses Prinzip könnte man auch für die Gleichzeitigkeiten in Musils I.44 des MoE geltend machen, wenn er wie beim Filmschnitt die beiden parallel laufenden Handlungsstränge in und außerhalb des Zimmers ineinander ›schneidet‹.
Selbst der verwöhnte Soliman zeigte sich ergriffen. Märchenhaft und unheimlich schwoll das Leben an, durch einen Türspalt und eine Einbildung gesehen. Die gebückte Haltung machte das Blut in den Ohren sausen, und die Stimmen hinter der Tür polterten bald wie Felsblöcke, bald glitten sie wie auf geseiften Bohlen. Rachel richtete sich langsam auf. Der Boden schien sich unter ihren Füßen zu heben, und der Geist des Ereignisses umschloß sie, als ob sie den Kopf unter eines jener schwarzen Tücher gesteckt hätte, welche die Zauberer und Photographen benutzen. Dann richtete sich auch Soliman auf, und das Blut senkte sich zitternd aus ihren Köpfen. Der kleine Neger lächelte, und hinter den blauen Lippen schimmerte ein scharlachrotes Zahnfleisch.
Alsdann: »der Geist des Ereignisses umschloß sie, als ob sie den Kopf unter eines jener schwarzen Tücher gesteckt hätte, welche die Zauberer und Photographen benutzen« – auch wenn man davon absieht, hierin den Vollzug eines sexuellen Aktes zu lesen, bei dem der nach vorne gebückten Rachel ihr eingangs des Kapitels auf Ulrich so starken Eindruck machender »schwarz-weißer Ornat« nach vorne über den Kopf gestreift wird und es »einem jungen Schlaraffenkavalier« erlaubt, die »süße Reife« des »Fruchtbäumchens« zu genießen, ist doch signalisiert, dass das Sausen des Blutes in den Ohren Rachels und das Einschießen des Blutes in ihrer beider Köpfe bis sie sich wieder aufrichten, nicht allein dem insgeheim abgelauschten Ereignis im Raum geschuldet ist. Sie beide finden sich in eine Rezeptionsposition und -situation versetzt, die sich körperlich auswirkt, Schwindelgefühle erzeugt. »[D]ie Stimmen hinter der Tür polterten bald wie Felsblöcke, bald glitten sie wie auf geseiften Bohlen« und »das Leben zerfiel in helle Einzelheit«, »der Boden schien sich unter ihren Füßen zu heben«. Es währt nur eine besondere Sekunde lang, was da »im Vorzimmer zwischen den an den Wänden hängenden Überkleidern einflußreicher Personen« passiert. Eine Sekunde, die »langsam wie auf der Trompete geblasen dahinging«. Genug Zeit jedenfalls, damit währenddessen »im Zimmer innen alles zum Beschluß erhoben« wird und zuvor noch Graf Leinsdorf spricht (alle Zitate I.44). Die schwarzen Tücher der Zauberer und Photographen, die erwähnt werden, »als ob sie den Kopf unter eines jener schwarzen Tücher gesteckt hätte«, dienen wenn schon nicht sexuellen Akten, so doch zumindest einerseits der Verdunkelung, andererseits sind sie Ausweis aktiven medialen Handelns. Der ungestörte und auch den Apparat nicht beeinträchtigende Blick des Operateurs, der der Handlung vorangeht, die für ein – diesfalls lesendes – Publikum aufbereitet wird, ist entscheidend für die Produktion. Kommt der Kopf wieder unter den Tüchern hervor, sei es nach dem Zauberakt oder der Aufnahme, ist etwas Neues entstanden, etwas Überraschendes und zugleich nicht Leugbares wird vorgezeigt – Rachel kommt entsprechend Roland Barthes’ Begrifflichkeit (Die helle Kammer) sozusagen aus dem »studium« zum »punctum« – und dieses neu Entstandene ist die Erkenntnis, ist diesfalls der Krieg, so »signalisierte ›Rachelle‹«. Musils im Bau des Kapitels präzise gesetzte Schnitte bringen die (im Roman›geschehen‹ bereits ab dieser ersten Sitzung institutionell geschickt sedierte) Parallelaktion auf ihren Punkt. Es ist nur ein Absatz, aber in ihm ist der Fortgang angelegt, damit auch der Punkt, an dem sich die Parallelen schneiden: »Am Schlüsselloch signalisierte ›Rachelle‹: ›Jetzt sprechen sie von Krieg!‹«
Die Arbeit mit Prolepsen und Analepsen im Sinne eines komplexen Filmschnitts à la Sally Menke dient Musil vor allem dazu, die Gleichzeitigkeit des Geschehens vor der Tür und im Zimmer innen deutlich machen. Rachels Signal von der Kriegsrede – »›Daraus kann auch ein Krieg werden!‹ hatte Rachel erregt hinzugefügt, und als höchste Steigerung kam nun ihre Meldung vom Schlüsselloch, daß es fast schon soweit sei.« – mobilisiert auch Soliman, der nun mit ihr kommt, das weitere Geschehen verfolgt und sich mit ihr eine langsame Sekunde lang bückt.