Frigyes Karinthy: Kettenglieder

Frigyes Karinthy: Kettenglieder (Láncszemek, 1929)
Übersetzung aus dem Ungarischen von Amália Kerekes (2020)

(Hinweise zur Erzählung.)

Es gibt doch eine entscheidende Sache, sagte ich in der Hitze der Diskussion (es ging wieder um diese Wellenlinien, darum, ob sich die Welt entwickelt, in irgendeine Richtung geht, oder ob das Ganze nur das Spiel wiederkehrender Rhythmen ist, die Erneuerung des immer schon Dagewesenen), ich weiß ja nicht, wie es auszudrücken wäre, und ich wiederhole mich ungern. Vielleicht so: die Erdkugel war noch nie so winzig klein, wie sie neuerdings geworden ist – natürlich verhältnismäßig. Das zunehmende Tempo des mündlichen und physischen Verkehrs ließ die Welt zusammenschrumpfen – ich glaube, es gab schon dieses und jenes, es war schon von allem die Rede, aber noch nie davon, dass das, was ich denke, tue, was ich will oder möchte, wenn es nach ihm oder mir geht, die ganze Bevölkerung der Erde in Minuten erfährt; und will ich mich davon persönlich überzeugen, bin ich in Tagen, ruck-zuck, dort, wo ich sein will. Das Feenland, was die Siebenmeilenstiefel betrifft, kam auf diese Welt – und sorgte nur darum für ein wenig Enttäuschung, weil sich Feenland als viel kleiner erwies, als das Land der Wirklichkeit es je war. Chesterton schreibt irgendwo, dass er nicht versteht, warum die Metaphysiker den Kosmos auf jeden Fall als ein großes Ding vorstellen lassen – ihm gefällt der Gedanke vom winzig kleinen, aparten, herzlichen, intim kleinen Weltall besser. Ich halte diese Idee im Jahrhundert des Verkehrs für sehr bezeichnend – bezeichnender als geistreich oder wahr, und gerade darum, weil mit ihr der reaktionäre, wissenschafts- und technikleugnende, antievolutionistische Chesterton ungewollt zugeben musste, dass das seinerseits oft erwähnte Feenland doch von jener »wissenschaftlichen« Entwicklung hervorgezaubert wurde. Es ist ja klar: alles kehrt wieder und erneuert sich – merkt ihr aber nicht, dass sich das Tempo dieser Wiederkehr und Erneuerung in einem nie gesehenen Ausmaß in Raum und Zeit verschärft hat? Mein Gedanke umkreist den Globus in Minuten – die Phasen der Weltgeschichte wälzen wir wie eine langweilig gewordene Hausaufgabe ab – und daraus entsteht doch etwas, ich möchte bloß wissen, was. (Mich dünkt, ich hätte es fast gewusst – dann vergaß ich es wieder. Zweifel überkamen mich – vielleicht gerade deshalb, weil ich der Wahrheit zu nahe rückte. In der Nähe des Pols fängt die Magnetnadel zu schwingen an, das wisst ihr – mit dem Glauben scheinen wir in der Nähe Gottes zu sein.)

Aus der nun sich anschließenden Diskussion heraus entstand ein nettes Spiel. Ein Mitglied der Gesellschaft schlug eine Probe aufs Exempel vor, um zu beweisen, dass die Bewohner der Erdkugel wesentlich näher zueinander sich befinden, in jeder Hinsicht, als je zuvor. Man solle irgendein bestimmbares Individuum von den anderthalb Milliarden Einwohnern der Erde auswählen, egal an welchem Punkt der Erde – er biete die Wette an, durch höchstens fünf andere Individuen, von denen bloß eins ihm persönlich bekannt ist, mit ihm in Kontakt treten zu können, aufgrund der indirekten Bekanntschaft, wie man sagt: »Du kennst X.Y., sag ihm bitte, dass er Z.V. sagen soll, der sein Bekannter ist …« usw. 

»Da bin ich aber gespannt«, sagte ein anderer, »dann bitte schön, sagen wir … sagen wir Selma Lagerlöf.«

»Selma Lagerlöf«, sagte unser Freud, »nichts geht einfacher«.

Er überlegte zwei Sekunden und hatte schon die Lösung. Selma Lagerlöf kennt als Nobelpreisträgerin nachweislich persönlich den schwedischen König Gustav, denn er überreichte ihr vorschriftsmäßig den Preis. Der schwedische König Gustav ist wiederum leidenschaftlicher Tennisspieler, nimmt auch an internationalen Turnieren teil, spielte mit Kehrling, den er zweifelsohne schätzt und gut kennt – und Kehrling kenne ich persönlich sehr gut (unser Freund ist ebenfalls ein starker Tennisspieler). Das ist die Kette – man braucht dazu nur zwei Kettenglieder an den maximal fünf Punkten, was sich von selbst versteht, denn es ist einfacher, zu den berühmten und beliebten Menschen der Welt Kontakt zu finden als zu der Bedeutungslosigkeit, erstere haben nämlich ungeheuer viele Bekannte. Das nächste Mal bitte eine schwierigere Aufgabe stellen! 

Die schwierigere Aufgabe, einen Nietarbeiter aus der Werkstatt der Ford-Werke, übernahm ich selbst und löste sie mit vier Kettengliedern erfolgreich. Der Arbeiter kennt den Chef der Werkstatt und der Chef der Werkstatt Ford selbst, Ford ist befreundet mit dem Generaldirektor der Hearst-Blätter, den Generaldirektor der Hearst-Blätter lernte Herr Árpád Pásztor letztes Jahr gründlich kennen, der nicht nur mein Bekannter, sondern, soweit ich weiß, auch mein vortrefflicher Freund ist – es kostet mich nur ein einziges Wort, dass er dem Generaldirektor telegrafiert, damit er Ford sagt, dass er dem Chef der Werkstatt sagen soll, der Nietarbeiter müsse mir schleunigst ein Auto zusammennieten, weil ich es gerade brauche. 

So ging das Spiel und unser Freund hatte Recht – man brauchte kein einziges Mal mehr als fünf Kettenglieder dazu, damit irgendein Mitglied der Gesellschaft mit irgendeinem Einwohner der Erdkugel über lauter persönliche Bekanntschaften in Verbindung tritt. Nun stelle ich die Frage – gab es je eine Periode in der Geschichte, in der das zuvor möglich gewesen wäre? Julius Caesar war ein mächtiger Mann, fällt ihm aber beispielsweise ein, bei irgendeinem Priester der Azteken- oderMayastämme im damaligen Amerika in einigen Stunden oder Tagen um Protektion anzusuchen, hätte er seinen Plan nicht durch fünf, ebensowenig durch dreihundert Kettenglieder umsetzen können, nicht zuletzt deshalb, weil sie über Amerika und seine möglichen oder unmöglichen Bewohner damals weniger wussten, als wir über den Mars und seine Bewohner wissen. 

Es gibt also etwas, einen Prozess, jenseits von Rhythmus und Welle – Verengung und Dehnung. Etwas schrumpft zusammen und wird kleiner, und etwas zerfließt und vergrößert sich. Ist es möglich – wäre es dennoch möglich –, dass diese Verdichtung und Verkleinerung, dass diese physische Welt und dieses Zerfließen und Vergrößern mit jenem flimmernden Funken begannen, der vor vielen Millionen Jahren im Nervengallert des Menschentiers zündete, sich ausbreitend und vergrößernd und alles in Brand setzend, was ihm im Weg stand, die ganze physische Welt in Flammen setzend und schrumpfend und zu Asche verbrennen lassend? Ist es möglich – denn was wäre ja möglich, dass die Kraft das Material überwindet – dass die Seele die stärkere und wahrere Wahrheit ist als der Körper – dass das Leben einen Sinnhat, der das Leben überlebt – dass das Gute das Böse überlebt, dass das Leben den Tod überlebt –, dass Gott doch mächtiger als der Teufel ist? 

Dabei – ich gebe es beschämt zu, bitte dafür auch um Entschuldigung und protestiere doch dagegen, dass man mich für töricht hält – ertappe ich mich immer noch häufig bei diesem Beistandsspiel, nicht nur im Zusammenhang mit Menschen, sondern auch mit den Dingen. Es geht leider ganz leicht wie von selbst, wie das Husten. Es ist ein nutzloses Spiel, ich kann mit ihm nichts verändern – aber das nutzt nichts, mir geht es wie einem Spieler, der in seinen Spielhöllen schon alles verloren hat: er spielt lieber um Nüsse oder nur so um nichts, ohne Hoffnung auf das Gewinnen: er will nur die vier Farben der Karte sehen. Hoffnungslos rattert in mir das komische Gedankenspiel – wie könnte ich mit zwei Kettengliedern, mit drei Kettengliedern, höchstens mit fünf Kettengliedern, unter den mir zugeschleuderten klitzekleinen Dingen des Lebens Verbindung, Zusammenhang stiften – wie könnte ich das eine Phänomen mit dem anderen verknüpfen – das Relative, das Vergängliche mit dem nicht Relativen und Bleibenden in Beziehung setzen – den Teil mit dem Ganzen zusammenbinden? Es wäre so schön, zu leben, zu genießen, sich zu erfreuen, die Dinge zu nehmen nur in dem Bezug, wie sie meiner Freude dienen oder mir weh tun – aber das geht nicht! Das Spiel reizt mich zu sehr, als dass ich nicht in den mich anlachenden Augen, in der zuschlagenden Faust etwas anderes suchte, als es ohnehin schon ist, sie mithin einfach zu mir zu ziehen oder mich gegen sie zu wehren. Jemand liebt mich – jemand ist mir böse –, warum liebt er mich, warum ist mir böse? Die beiden verstehen sich nicht – ich soll sie beide verstehen –, aber wie? Man verkauft Weintrauben auf der Straße – mein kleiner Sohn weint im anderen Zimmer. Der bekannte Herr wurde von seiner Frau betrogen – im Dempsey-Spiel schrien hundertfünfzigtausend Menschen – Romain Rollands neues Buch interessierte niemanden – mein Freund X. änderte seine Meinung über Y. – Kette-Kette-Fahrradkette, wie könnte man in diesem Wirrwarr eine Verbindungslinie finden? Und zwar schnell und unmittelbar, nicht mit dreißig Philosophiebänden! Höchstens mit einer Schlussfolgerung, die aber so, dass die Kette, die von der Sache ausgeht, mit ihrem letzten Kettenglied zur Quelle aller Sachen, zu mir führt. Wie auch … 

Wie auch dieser Herr … dieser Herr, der zu meinem Tisch kam … wo ich das hier schreibe, er kam herbei und störte mich mit irgendeiner belanglosen nichtigen Sache: er schlug mir derart aus dem Kopf, was ich gerade sagen wollte. Warum kam er hierher, wieso wagt er es, mich zu stören? Erstes Kettenglied: er hält nicht viel von der ganzen Schreiberei. Aber warum nicht? Zweites Kettenglied: die Schreiberei wird generell weltweit nicht mehr so hochgeschätzt wie vor einem Vierteljahrhundert. Der Grund dafür ist das Weltbeben, das den Geist kompromittierte – wenn nur so viel herauskam, wie herauskam, kann die berühmte Geistesströmung, die »Weltanschauung« des Jahrhundertendes, nicht viel wert sein. Drittes Kettenglied: deshalb herrscht die entfesselte Hysterie der Angst und der Gewalt über Europa, die Ordnung löste sich auf – viertes Kettenglied!
Die neue Ordnung soll nun kommen, der neue Erlöser der Welt soll kommen, der Gott der Welt soll sich im brennenden Dornbusch zeigen, es soll Friede, Krieg, Revolution sein, damit es – ach, fünftes Kettenglied! – nie wieder geschieht, dass es jemand wagt, mich zu stören, wenn ich spiele, fantasiere, wenn ich denke!