Amtsgeheimnis

Wie ich schon sagte, ich habe keine Amtsgeheimnisse vor ihnen; aber Sie selbst in den Akten suchen zu lassen, so weit kann ich denn doch nicht gehn

Kafka, Schloss [cf. Das verwaltete Wissen)

Robert Musil notiert im TAGE-Heft 8 aus 1920 einen Vorfall betreffend Sektionschef Kaup aus dem österr. Staatsamt für soziale Verwaltung; dieser hatte Daten und Statistiken zur Ernährungslage an die Öffentlichkeit gebracht und die aktuelle Lage scharf kritisiert. In der Nationalversammlung sah sich Staatskanzler Renner zu einer einschlägigen Stellungnahme veranlasst; Musil kritisiert diese Reaktion scharf, er sieht den Boten bestraft, anstelle die Übelstände beseitigt:

Wie rasch man sich adaptiert: Renner über den Fall Sektionschef Prof. Dr. Kaup: »…Übrigens wäre eine Erörterung der Zustände in den Heilanstalten in der Presse auch dann kein Gegenstand einer administrativen Verfügung dieses Beamten geworden, wenn sie nicht mit zwei absolut unzulässigen Vorgängen verbunden gewesen wäre: erstens mit persönlichen Angriffen gegen die unmittelbar vorgesetzte Stelle und zweitens mit der Preisgabe von amtlichen Daten, zu deren Geheimhaltung der Beamte verpflichtet ist. Dazu kommt aber noch, daß diese Daten unrechtmäßig beschafft, unvollständig aufgenommen und entstellt wiedergegeben sind, so daß der erwähnte Artikel weder als schriftstellerische Schilderung von Realitäten, noch als wissenschaftliche Forschung, sondern ausschließlich als Pamphlet eines malkontenten Beamten gegen übergeordnete staatliche Stellen zu werten ist.« Wie rasch sie sich akkomodieren! Das könnte ganz ein Bericht aus der alten Ära sein. Der Apparat saugt sie auf. Die KP wird auch so sein.

Musil, Robert: Tagebücher. Bd. 1. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchgesehene und ergänzte Ausgabe Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983, S. 357f.

Aus der Anmerkung des Herausgebers Frisé zu diesem Notat erschließt sich Renners damalige Erregung als Kanzler einer noch sehr jungen Republik, die allzu gewiss schon ahnen mochte, dass sie bloß die Erste, nicht aber die letzte dieses Staatsgebildes sein würde:

Exzerpt aus dem Bericht »Konstituierende Nationalversammlung  / Der Staatskanzler über den Fall Kaup« (Neue Freie Presse Wien 25. März 1920 S. 4/5). Der Sozialhygieniker Prof. Dr. Ignaz Kaup (1870–1944) aus Marburg (Maribor) / Slowenien war 1918/19 Staatssekretär bzw. Sektionschef im österr. Staatsamt für soziale Verwaltung. In dem Bericht heißt es (Abs. 3): »Zum Schlusse der Sitzung erhob sich Staatskanzler Dr. Renner, um in ausführlicher Weise zu dem in der letzten Zeit in der Öffentlichkeit und in der Presse vielbesprochenen Fall des Sektionschefs Kaup in Beantwortung einer Anfrage des Abg. Friedmann und Genossen Stellung zu nehmen.« Der strittige Punkt: Kaup hielt »in einer großen Versammlung des Bürger- und Ständerates mit der auffälligen Tagesordnung: ›Staatliche Bewirtschaftung, Aushungerung durch das Ernährungsamt‹ am 9. Dezember 1919 eine Rede voll Ausfällen gegen das Staatsamt für Volksernährung, wobei auch wenigstens ein Teil dieser Angriffe auf Daten basierte, die Herrn Sektionschef Dr. Kaup nur in seiner amtlichen Stellung zugänglich gewesen sein können. […] / Das dem Herrn Sektionschef Kaup beliebte Verfahren ist derart, daß es, wenn es Verbreitung fände, das Ansehen der Behörden völlig untergraben müßte, denn es ist ganz und gar ausgeschlossen, daß die Verwaltungsbeamten eines Staates und eines Amtes das amtliche Material dazu verwenden, um sich in der Öffentlichkeit zu befehden.« Karl Renner (1870–1950): österr. sozialdem. Politiker, November 1918–Juni 1920 Staatskanzler (1945 Chef der ersten österr. Regierung, 1945–50 Bundespräsident)

Musil, Robert: Tagebücher. Bd. 2: Anmerkungen. Anhang. Register. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchgesehene und ergänzte Ausgabe Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983, S. 220

Musil berichtet hier vom Fall einer zunächst zulässigen Akteneinsicht und dem daran anschließenden, unzulässigen Umgang mit dem gesammelten Wissen, das unter der Kuratel eines Amtseids stand. Die Stelle ist nicht allein deshalb interessant, als sie im TAGE-Heft 8, einem der neben den Heften 9 und 21 zentralen Sammelbecken für Material zum MoE, notiert ist, sondern vielmehr als unmittelbar im Anschluss daran der Verfasser mit unverkennbarem Sarkasmus einen Eintrag zu »Monarchie-Bürokratie« macht – einem Thema, das er immer wieder aufgreift (Cf. bspw.: Musil: Tagebücher. Bd. 1, S. 409 [Heft 8 – die Erwähnung des Vormärz, der in MoE I.91 zur Charakterisierung Tuzzis als »de[m] vormärzlich gesinnten Mann« dienlich ist], 433ff. [Heft 9 – im Anschluss an Notate zum Kriegspressequartier bzw. Kriegsarchiv und div. ehemaligen Proponenten in dessen Umfeld]):

Der Mangel an Initiative und eigener Meinung innerhalb einer monarchistischen Bürokratie. Tun, was man für richtig hält, ist eine Anmaßung. Dieses Recht hat nur der Monarch.

Musil: Tagebücher. Bd. 1, S. 358

Dieser Feststellung folgen Exzerpte aus Erich v. Kahlers Das Geschlecht Habsburg:

Die charakteristische Vorstellung, die man von Österreich vor dem Kriege hatte, ist das Fehlen einer ausgesprochenen Vorstellung. Kein Geschmack, kein Begriff, kein Schlagwort verband sich damit. »Eine Diplomatie, welche subtil und umständlich in länge bewährten und geschätzten Formen mehr einen Bestand verteidigte, als .. [sic] eine Notwendigkeit förderte.« »Eine Regierung regierte ein Land, dessen sie sich kaum mehr entsann.« »Die Staatskuppel, Zeit- und Weltluft versperrend«, lag über allen selbständigen Bestrebungen. »Kein Volk, keine Idee, keine .. [sic] Solidarität des nach vorn gewandten Triebs und der natürlichen Tätigkeit«

Erich von Kahler: Das Geschlecht Habsburg. München: Der Neue Merkur 1919, S. 13; Musils exzerpiert hier aus v. Kahlers Einleitung »Österreich vor dem Kriege«.

Der oben erwähnte Karl Renner bemerkte übrigens bereits 1910 in einer Sitzung des Delegation des Reichsrats betreffend die Außen- und damit nicht zuletzt die Politik jenes Ministerium, in dem Musils Sektionschef Hans Tuzzi dereinst eine führende Rolle zugeschrieben werden sollte:

Unsere auswärtige Politik, volksfremd in ihren Methoden und in ihren Zeilen weitabgehend von den realen Interessen der Bevölkerung, hat es verstanden, aus dem 17. und 18. Jahrhundert in das 20. Jahrhundert den Charakter einer reinen Hof- und Hausmachtpolitik herüberzuretten.

zit. nach Rumpler, Helmut: Die rechtlich-organisatorischen und sozialen Rahmenbedingungen für die Außenpolitik der Habsburgermonarchie 1848–1918. In: Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Band VI/1: Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1989, S. 1–121, hier S. 44

Wie an anderer Stelle (Peter Plener: Aktenzeichen MoE. Bürokratie und Krieg 1914–1918. In: denken, schreiben, tun. Politische Handlungsfähigkeit in Theorie, Literatur und Medien, hg. v. Amália Kerekes et al. Frankfurt am Main: Lang 2018, S. 201–215 und ders.: Das verwaltete Wissen. Zur Funktion von Akten, Bibliotheken und Verzeichnissen für Musils Mann ohne Eigenschaften. In: Robert Musil und die modernen Wissenschaften, hg. v. Károly Kókai, Wien: No Press 2019, S. 117–151) sich zeigen ließ, ist dem Moe als eine seiner vielen Ebenen die Bedeutung des »k. und k. Ministeriums des kaiserlichen und königlichen Hauses und des Äußern« und seiner Eliten für die Auslösung des Krieges (vgl. etwa Helmut Rumpler, s.o., S. 1–121) eingeschrieben. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Figur »Sektionschef Tuzzi«. Deren leibhaftige Vorlage hieß in der Beamtenrealität der Jahre 1913ff. Rudolf Pogatscher; Musil kannte ihn und wusste um seine Schlüsselrolle: er war als politischer Sektionschef mit sämtlichen Zugriffsrechten und Pouvoirs ausgestattet, lediglich dem Außenminister gegenüber berichtspflichtig und wesentlich am Zustandekommen des Ersten Weltkriegs beteiligt.

Woher wusste Musil das alles? Um eine Spur anzudeuten (andere wären bspw.: die Tätigkeit im Kriegspressequartier, die Arbeit in den Ministerien für Verteidigung und Äußeres nach Kriegsende):

Auflösung & Nachvollzug