A bureau is, in many ways, and more and more every year, a small laboratory in which many elements can be connected together just because their scale and nature has been averaged out: legal texts, specifications, standards, payrolls, maps, surveys […].
Bruno Latour, 1986
»Mein Schreibtisch im Bureau war gewiß nie ordentlich, jetzt aber ist er von einem wüsten Haufen von Papieren und Akten hoch bedeckt, ich kenne beiläufig nur das, was obenauf liegt, unten ahne ich bloß Fürchterliches.« (F. Kafka → F. Bauer, 3. Dezember 1912) Kafka arbeitet 1912 in der Arbeiter-Unfallversicherung; was sich auf seinem Schreibtisch häuft, handelt (in wie entfremdeter Form auch immer) nahezu ausschließlich von »Schnittstellen« unterschiedlichen Grades, so auch letalen.
Die Sentenz aus dem Brief an Felice Bauer liest sich zugleich wie die Blaupause einer Befindlichkeit in der Digitalisierung: Oberflächen, Bildschirme & Formularfelder werden bearbeitet, während das ›darunter‹, die algorithmische und jedenfalls tatsächliche Verschaltung, sich der Beobachtbarkeit entzieht. Selbstverständlich ahnt ›man‹ »unten bloß Fürchterliches«. Im digitalisierten Schlund (auch unter diesem Formularfeld hier, während des Schreibens) wüten die Algorithmen durch die Datensätze. Und auch wenn Kafka gegenüber Milena Jesenská festhalten wird, dass »das Bureau doch nicht irgendeine beliebige dumme Einrichtung« ist (»übrigens ist es mehr phantastisch als dumm«), so gerät ihm doch eine gegenüber dieser Freundin gesetzte Darstellung wie ein vorweggenommener Ausdruck des transzendental obdachlosen (& also) Unbehagens im Zeitalter seines digitalisierten Processes:
Die Menschheit fühlt das und kämpft dagegen; sie hat, um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist soviel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrundegehen.
F. Kafka →M. Jesenská, 03/1922
Akten, Formulare, Briefe und darunter & dazwischen »Gespenster« & das »Fürchterliche«. Es ist »phantastisch«.
Sehr viel später, 1987, wird Jacques Derrida auf eine ähnliche Idee gekommen sein – dies nur en passant vermerkt –:
Ich habe versucht, ihr [einer Studentin; Anm.] zu erklären, dass die Erfahrung von Geistern anders, als man zunächst denken würde, nicht an eine vergangene Epoche der Geschichte oder an die Landschaft schottischer Herrenhäuser etc. gebunden ist, sondern im Gegenteil durch jene Techniken verstärkt und beschleunigt wurde, über die wir heute verfügen, wie den Film, das Fernsehen oder das Telefon. Diese Techniken leben in gewisser Weise von einer geisterhaften Struktur.
Jacques Derrida: Geistertanz. In: Ders.: Denken, nicht zu sehen. Schriften zu den Künsten des Sichtbaren. 1979–2004. Hg. v. Ginette Michaud, Joana Masó u. Javier Bassas. Übers. V. Hans-Dieter Gondek u. Markus Sedlaczek. Berlin: Brinkmann & Bose 2017, S. 262–268, hier S. 262.
Dass Medien/-Kanäle so eng mit »Gespenstern« verwoben sind (Kafka unterrichtet Felice Bauer mehrmals davon und schildert obendrein Technikträume, aber im Grunde erweist sich jede Gespensterkunde als Beitrag zur Mediengeschichte, da sich diese Stränge unauflöslich bedingen), liegt möglicherweise auch daran, dass beiden keine ›Restlosigkeit‹ eignet und also immer etwas bleibt, worüber und mit dem fortgesetzt kommuniziert wird.
Es geht aber nicht allein um ein phantastisches Amt mit seinen Ordnungssystemen und Gespenstern, bedenkt man beispielsweise ein, zwei einschlägig zu machende Passagen aus Musils »Mann ohne Eigenschaften«. Denn angesichts von soviel Ordnung muss man wie der Generalstäbler Stumm in Weiterführung einer Sentenz Ulrichs (»Geist ist Ordnung, und wo gibt es mehr Ordnung als beim Militär?«, MoE I.85) versucht sein deutlich zu machen, dass hier immer ein gewisses Risiko mitschwingt: »Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über.« (MoE I.100)
Der Zusammenhang ist evident, besieht man sich etwa General von Schlieffens Idee wie die mediengesteuerte Kriegsführung des »Feldherrn der Zukunft«, der nahen Zukunft, für die zielgerichtete Druckbetankung der Kampfhandlungen sorgen würde. Wo Kafka 1912 noch davon schreibt, dass Telegraph, Telephon, Funkentelegraphie wirksam der unmittelbaren Begegnung mittels Eisenbahn, Auto und Aeroplan entgegengesetzt würden, das Gespenstische also nunmehr unweigerlich zwischengeschaltet bleibe, baut Alfred von Schlieffen 1909 (»Der Krieg in der Gegenwart«, s.u.) – als Marinetti sein Manifest für ein futuristisch-expressionistisches Jahrzehnt Weltkrieg veröffentlichte und man in Österreich die Einrichtung eines Kriegspressequartiers pro futuro ausarbeitete – an der Vision eines tatsächlichen Medienverbunds avant la lettre, dass die Befehlshaber künftig als Dirigenten dort sitzen würden (sozusagen als Auge im Sturm des Bewegungskriegs), »wo Draht- und Funkentelegraph, Fernsprech- und Signalapparate zur Hand sind«:
Kein Napoleon, umgeben von einem glänzenden Gefolge, hält auf einer Anhöhe. Auch mit dem besten Fernglas würde er nicht viel zu sehen bekommen. Sein Schimmel würde das leicht zu treffende Ziel unzähliger Batterien sein. Der Feldherr befindet sich weiter zurück in einem Hause mit geräumigen Schreibstuben, wo Draht- und Funktelegraph, Fernsprech- und Signalapparat zur Hand sind, Scharen von Kraftwagen und Motorrädern, für die weitesten Fahrten gerüstet, der Befehle harren. Dort, auf einem bequemen Stuhle vor einem breiten Tisch hat der moderne Alexander auf einer Karte das gesamte Schlachtfeld vor sich, von dort telephoniert er zündende Worte, und dort empfängt er die Meldungen der Armee- und Korpsführer, der Fesselballon[e] und der lenkbaren Luftschiffe, welche die ganze Linie entlang die Bewegungen des Feindes beobachten, dessen Stellungen überwachen. [/] Diese Meldungen werden sich von denjenigen früherer Zeiten hauptsächlich durch die Höhe der Zahl, weniger durch den Inhalt unterscheiden.
Alfred v. Schlieffen: Der Krieg in der Gegenwart. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. I. Berlin: Mittler 1913, S. 11–22, hier S. 15f. [EA: Deutsche Revue 34, Jänner 1909]
Von hier aus (Vismann 2000 im »Akten«-Buch wie Friedrich Kittler u.a. in den »Telegrammstil« [1986]-, »Rock Musik« [1991 bzw. 1988]- und »Playback« [Ü, 2021]-Aufsätzen und Wolf Kittler in einem Beitrag »Zur Funktion der Schrift im Werk des preußischen Dichters Heinrich von Kleist« [1988] zitierten diese Stelle) ließen sich wohl nicht allein die Bataillone und Regimenter in die Schlachtenordnungen gereiht, sondern ebenso Eisenbahn, Auto und Aeroplan lenken. (Was Schlieffen nicht versteht respektive wodurch er sich seine Idee nicht nehmen lassen will, ist ironischerweise die dynamische Eigengesetzlichkeit der Maschinen und modernen Kampfverbände: die Leitungen und Nachschübe, Informationen und Befehle vermögen noch eine Weile nicht so schnell zu folgen – und allein eine funktionierende, drahtlose Verbindung hätte hier Abhilfe schaffen können. Als dieses Problem Schlieffens Nachfolgern mit einer historisch nicht ganz unwichtigen Verzögerungszeit klar wurde, war der Stellungskrieg unwiderruflich eröffnet.)
Sogar Max Weber wird das 1922, also in der Zwischenkriegszeit und postum nach seinem Tod durch die »Spanische Grippe«, bestätigt haben: Der »moderne höhere Offizier leitet vom ›Büro‹ aus die Schlachten«. Cornelia Vismann (Akten, 2000) hat darauf aufmerksam gemacht, dass der bei den für damalige Begriffe noch recht neuen Medien erfolgende Wegfall der Verschriftlichung nicht einmal scheinbar ist:
Nicht nur erfolgt die Anmeldung eines Ferngesprächs schriftlich. Vor allem soll das Gespräch selbst protokolliert und zu den Akten genommen werden, damit es nach der Logik der Verwaltung überhaupt stattgefunden hat, damit es in mundo ist. Weber definiert das Paradox verschriftlichter Mündlichkeit als bürokratische Grundregel: ›Es gilt das Prinzip der Aktenmäßigkeit der Verwaltung, auch da, wo mündliche Erörterung tatsächlich Regel oder geradezu Vorschrift ist.‹
Denn: »Akten und kontinuierlicher Betrieb durch Beamte zusammen ergeben: das Bureau, als denKernpunkt jedes modernen Verwaltungshandelns.« (Vismann)
Ein Beispiel aus 1923 (mit Beschluss des Ministerrats vom 18. Juli 1923 wurde eine neue »Kanzleiordnung für die Bundesministerien« erlassen) bringt sehr deutlich diesen Zusammenhang von mündlicher Fernsprechanschluss-Rede und Aufzeichnungserfordernis zum Ausdruck:
Im Fernsprechwege an das Bundesministerium gelangende Berichte, Mitteilungen u. dgl. sind gemäß den diesbezüglich getroffenen näheren Anordnungen von der Einlaufstelle schriftlich aufzunehmen. Die Richtigkeit der Niederschrift ist durch deren Rücklesung am Fernsprecher festzustellen und vom aufnehmenden Beamten unter Vermerk der im Punkt 6, Absatz 2, bezeichneten Angaben zu bestätigen. Die Niederschrift des Fernspruches ist sodann wie ein anderes Einlaufstück zu behandeln.
Derart wird auch die korrekte Wiedergabe des Rauschens in den Leitungen eine Anforderung und in Verbindung mit der schriftlichen Aufzeichnung und vorschriftsmäßigen Veraktung zu einer spezifischen Kulturtechnik der Verwaltung.
Modernes Verwaltungshandeln unterscheidet sich in zumindest einem Anspruch nicht von jenem, der bereits den Kanzleiordnungen des 18. Jahrhunderts zugrunde lag: Akten samt ihrer Grammatologie der Rekursion und die nahezu unzähligen inkorporierten Kleinen Formen bedürfen zwingend einer Ordnung, andernfalls es keine Akten zu finden gibt und also – »quod non est in actis non est in mundo« – überhaupt nichts in der Welt ist. Ein ähnlicher Zwang zur Ordnung gilt für mit der Verwaltung und ihren Aktenläufen notwendige Medienzugriffe. Dies alles wiederum schließt sich mit von Schlieffens und Max Webers Idee in eine neue Sicht auf das Büro an sich zusammen, das mit dem Krieg in einen unmittelbaren Konnex eintritt.