[E]in Auge des Gesetzes sieht einem zu, man weiß nicht einmal, wo es sein Bureau hat, und dem macht man nichts vor. Eines Tages wird man verleumundet und erkennt sich niemals mehr wieder.
Robert Musil: Sittenämter (1923) [Prager Tagblatt v. 7. Juli 1923; Der Tag v. 10. Oktober 1923; FAZ v. 15. Feber 1966 – und: GW II, 1978, S. S. 671–674, hier S. 673f.)
[E]inen öffentlichen Charakter erkennt das Auge des Gesetzes, weil es selbst von öffentlichem Charakter ist, und nach einer alten Lehre das Auge das Licht nicht erkennen könnte, wenn es nicht selbst aus Stoff des Lichts bestünde. Jeder Amtsdiener hat seinen Personalakt, und steht nichts besonderes über seinen Charakter darin, so hat er eben seinen Amtscharakter; die günstigste aktenmäßig mögliche Aussage über einen privaten Charakter besteht aber darin, daß er nicht vorbestraft ist und auch sonst nichts Nachteiliges wider ihn angedeutet werden kann, und da das natürlich ebensogut zu bedeuten vermag, daß er es bisher mit besonderer Tücke verstanden hat, sich den Nachstellungen der Behörden zu entziehn, wird jeder Privatmann selbst einsehn, daß eine staatliche Behörde im Privatmann solange nichts andres sehen darf als einen noch nicht erwischten Verbrecher, bis er erwischt ist. Eine Ausnahme davon macht höchstens stadtbekannter Reichtum oder eine persönliche Empfehlung.
Man hat viel über die Ursachen nachgedacht. Sie dürften eine Folge der Erbsünde sein, denn schließlich ist sie schuld, daß soviel Menschen ohne Amtscharakter geboren werden. Es wird besser werden, wenn die Völker Europas auf dem Wege zunehmender Bureaukratisierung fortschreiten.
Immerhin ergibt die Beschäftigung einer Behörde mit einer Privatperson immer, daß diese Privatperson unklar und unverläßlich sei, nämlich gemessen an den Ansprüchen, die man in einem Amt an Genauigkeit und aktenmäßige Sicherheit stellt.
Robert Musil: Hans Sepps Selbstmord. In: Der.: Gesamtausgabe Bd. 6. Salzburg: Jung und Jung 2018, S. 653 [Das Kapitel aus dem Nachlass zum Mann ohne Eigenschaften gehört zur sog. »Kapitelgruppe 1928« und beinhaltet auch die Passage Musils betr. das »Weltgesetz der Bürokratie«.]
Sintemal zu Musils Essay Sittenämter aus 1923 vgl. die Schrift eines Kriminologen der Zeit: Erich Wulffen: Das Weib als Sexualverbrecher (Berlin 1923). Er stellt fest, dass jeder Mensch ein »verhüllter Verbrecher« ist (S. 9). Vorbehaltlich Musils zweifellos richtigen Befundes, dass es an sich besser würde (hier im Besonderen), »wenn die Völker Europas auf dem Wege zunehmender Bureaukratisierung« fortschritten, kommt etwas durchaus Unsatirisches – an der Grenze zum Zeitzeugnis – in seinem Text zu stehen: die Grundannahme (etwa des Jahres 1923 in Berlin oder Wien), dass eine »Privatperson unklar und unverläßlich sei« – zwangsläufig aus Sicht des Amtes, der Strafverfolgungsbehörden &c. –, wie er es 1928 reformiert in der zitierten Vor-Schrift für den MoE festhalten wird.