Nichtschwimmer

Die Nichtschwimmer  eine kürzere Parabel  (Von Wolfgang Bauer, EA 1963)

Irgendwo an der nordspanischen Atlantikküste, dort, wo die Brandung besonders brandet, hatten sich vier Nichtschwimmer einen Kahn gemietet. Mit glänzenden Augen betraten sie ihn, fangen an zu rudern und waren bald weit draußen im Meer, mitten in ihrer Fahrt ins Blaue. Der eine war siebzehn, die anderen drei fünfunddreißig. Sie waren nicht verwandt. Im Rudern wechselten sie einander ab, sie taten dies, damit sich keiner überanstrengte. Lange schon war man außer Sicht, lange schon konnten sie das Land nicht mehr erkennen, kaum mehr ahnen. Waren sie bei Sonnenschein aus der Bucht ausgelaufen, hatte sich nun der Himmel geändert, vor allem farblich. Schwarze Bauschen bauschten und sammelten sich zu einem stolzen Angriff, zu einer echten Atlantikattacke.
Die vier Nichtschwimmer – nun ruderte einer der drei Fünfunddreißigjährigen – sahen zu den Wolken auf und lächelten. »Wir können ohnehin nicht schwimmen«, sagte da der Junge. Die anderen zollten ihm ob dieses Ausspruches Beifall. Sie patschten und klatschten, daß sie ganz auf das Rudern vergaßen. Sie waren vom Spruche ihres Jüngsten hingerissen, begeistert, sie begannen zu jubeln, zu feiern, zu singen und zu tanzen, daß das kleine Hähnchen beinahe gekentert wäre. Dann aber machten die schweren Wolken ernst, sie schickten Sturm und Regen. Zwanzigmeter hohe Wogen. Der Kahn kenterte. Die Nichtschwimmer huben zu schwimmen an, bald schneller, bald immer talentierter, immer gewagter und ausgefallener. Auf dem Rücken liegend überquerte man lustvoll die ungeheuerlichen Wellenberge, man rief sich, wenn man auf dem Wellenkamm angelangt war, Scherze und kleinere Ulke zu, man stürzte sich mit Wonne in die Talgen Tiefen der nächsten Salzwassertales. Der Sturm wurde kräftiger, er strengte sich an, er machte seinem Namen Ehre, er stürmte, wie er noch nie gestürmt hatte. »Ein stürmischer Sturm«, rief da einer der drei Fünfunddreißigjährigen. »Der stürmischste Sturm, den ich je erlebt habe!« kam es da von einer fünfzigmeterhohen Woge, es war der zweite Fünfunddreißigjährige, er sprach langsam und abwägend, wie er es immer tat. Der dritte sagte nur: »Es stürmt«, während der junge, der Siebzehnjährige, meinte: »Es weht ein Wind.«
Mit jeder Woge wagte man sich an neue Schwimmkunststücke heran, man schlug Saltos, man sang unter Wasser (vor allem Lohengrin). Nun nahmen sich die vier Nichtschwimmer an den Händen und tanzten geschickt ein Wasserballett, ein Wasserballett, bei dem so manchem Wasserballett die Augen des Neides aus dem Wasserballettkopf getreten wären.
Als der Sturm nachließ, als die Wellen auf ein Minimum, auf ihr Minimum, also auf null Meter zusammenschrumpften, wurden die vier Nichtschwimmer traurig. Immer langsamer, immer zaghafter und ängstlicher vollzogen sie ihre vorhin noch so exakt-mutigen Tempi, immer müder hoben sie Hände und Köpfe. Als sie dann in zirka dreißig Meter Entfernung ein Boot gewahrten, in welchem ein Fischer saß, der auf sie zuhielt, der sie aus dem Meer nehmen wollte, fingen sie an zu schreien, zu zetern, zu heulen und zu flehen: »Hilfe!! Wir sind Nichtschwimmer!! Zu Hilfe!! Zu Hilfe!! Wir sind Nichtschwimmer!!«
Sie vergaßen auf die Schwimmbewegungen, auf die Krauler und die Delphinschnellen. Als der Fischer wenige Meter von ihnen entfernt sein Boot zum Stehen brachte, gingen sie unter.
»Typische Nichtschwimmer«, sagte da der Fischersmann.

Wolfgang Bauer: Die Nichtschwimmer

[Der grosse Schwimmer!]  –  Fragment aus dem sog. »Konvolut 1920«  (Von Franz Kafka, ca. August 1920)

Der grosse Schwimmer! Der grosse Schwimmer! riefen die Leute. Ich kam von der Olympiade in X, wo ich einen Weltrekord im Schwimmen erkämpft hatte. Ich stand auf der Freitreppe des Bahnhofes meiner Heimatsstadt — wo ist sie? — und blickte auf die in der Abenddämmerung undeutliche Menge. Ein Mädchen dem ich flüchtig über die Wange strich, hängte mir flink eine Schärpe um, auf der in einer fremden Sprache stand: Dem olympischen Sieger. Ein Automobil fuhr vor, einige Herren drängten mich hinein, zwei Herren fuhren auch mit, der Bürgermeister und noch jemand. Gleich waren wir in einem Festsaal, von der Gallerie herab sang ein Chor, als ich eintrat, alle Gäste, es waren hunderte, erhoben sich und riefen im Takt einen Spruch den ich nicht genau verstand. Links von mir sass ein Minister, ich weiss nicht warum mich das Wort bei der Vorstellung so erschreckte, ich mass ihn wild mit den Blicken, besann mich aber bald, rechts sass die Frau des Bürgermeisters, eine üppige Dame, alles an ihr, besonders in der Höhe der Brüste, erschien mir voll Rosen und Straussfedern. Mir gegenüber sass ein dicker Mann mit auffallend weissem Gesicht, seinen Namen hatte ich bei der Vorstellung überhört, er hatte die Elbogen auf den Tisch gelegt — es war ihm besonders viel Platz gemacht worden — sah vor sich hin und schwieg, rechts und links von ihm sassen zwei schöne blonde Mädchen, lustig waren sie, immerfort hatten sie etwas zu erzählen und ich sah von einer zur andern. Weiterhin konnte ich trotz der reichen Beleuchtung die Gäste nicht scharf erkennen, vielleicht weil alles in Bewegung war, die Diener umherliefen, die Speisen gereicht, die Gläser gehoben wurden, vielleicht war alles sogar allzusehr beleuchtet. Auch war eine gewisse Unordnung — die einzige übrigens — die darin bestand dass einige Gäste, besonders Damen, mit dem Rücken zum Tisch gekehrt sassen undzwar so, dass nicht etwa die Rückenlehne des Sessels dazwischen war, sondern der Rücken den Tisch fast berührte. Ich machte die Mädchen mir gegenüber darauf aufmerksam, aber während sie sonst so gesprächig waren, sagten sie diesmal nichts, sondern lächelten mich nur mit langen Blicken an. Auf ein Glockenzeichen — die Diener erstarrten zwischen den Sitzreihen — erhob sich der Dicke gegenüber und hielt eine Rede. Warum nur der Mann so traurig war! Während der Rede betupfte er mit dem Taschentuch das Gesicht, das wäre ja hingegangen, bei seiner Dicke, der Hitze im Saal, der Anstrengung des Redens wäre das verständlich gewesen, aber ich merkte deutlich, dass das Ganze nur eine List war, die verbergen sollte, dass er sich die Tränen aus den Augen wischte. Nachdem er geendet hatte, stand natürlich ich auf und hielt auch eine Rede. Es drängte mich geradezu zu sprechen, denn manches schien mir hier und wahrscheinlich auch anderswo der öffentlichen und offenen Aufklärung bedürftig, darum begann ich:
Geehrte Festgäste! Ich habe zugegebenermassen einen Weltrekord, wenn Sie mich aber fragen würden wie ich ihn erreicht habe, könnte ich Ihnen nicht befriedigend antworten. Eigentlich kann ich nämlich gar nicht schwimmen. Seitjeher wollte ich es lernen, aber es hat sich keine Gelegenheit dazu gefunden. Wie kam es nun aber, dass ich von meinem Vaterland zur Olympiade geschickt wurde? Das ist eben auch die Frage die mich beschäftigt. Zunächst muss ich feststellen, dass ich hier nicht in meinem Vaterland bin und trotz grosser Anstrengung kein Wort von dem verstehe was hier gesprochen wird. Das naheliegendste wäre nun an eine Verwechslung zu glauben, es liegt aber keine Verwechslung vor, ich habe den Rekord, bin in meine Heimat gefahren, heisse so wie Sie mich nennen, bis dahin stimmt alles, von da ab aber stimmt nichts mehr, ich bin nicht in meiner Heimat, ich kenne und verstehe Sie nicht. Nun aber noch etwas, was nicht genau, aber doch irgendwie der Möglichkeit einer Verwechslung widerspricht: es stört mich nicht sehr, dass ich Sie nicht verstehe und auch Sie scheint es nicht sehr zu stören, dass Sie mich nicht verstehen. Von der Rede meines geehrten Herrn Vorredners glaube ich nur zu wissen dass sie trostlos traurig war, aber dieses Wissen genügt mir nicht nur, es ist mir sogar noch zuviel. Und ähnlich verhält es sich mit allen Gesprächen, die ich seit meiner Ankunft hier geführt habe. Doch kehren wir zu meinem Weltrekord zurück

Franz Kafka: [Der grosse Schwimmer!]

Ich kann schwimmen wie die andern, nur habe ich ein besseres Gedächtnis als die andern, ich habe das einstige Nicht-schwimmen-können nicht vergessen. Da ich es aber nicht vergessen habe, hilft mir das Schwimmen-können nichts und ich kann doch nicht schwimmen.

Franz Kafka: [Notiz aus dem Oktober 1920]