Denn die Todten reiten Schnell

Eine Vampyr-Anekdote von Ü und U.

»Denn die Todten reiten Schnell.« (»For the dead travel fast.«)

Stoker, Dracula, Chap. 1 (1897)

In Bram Stokers 1. Kapitel seines »Dracula« findet sich eine Gottfried August Bürger zugeschriebene Zeile, und mit ein wenig Editionsphilologie (Bram Stoker’s Notes for Dracula. A Facsimile Edition. Hg., kommentiert u. transkribiert v. Robert Eighteen-Bisang u. Elizabeth Miller. Jefferson/North Carolina: McFarland 2008, S. 279) wird deutlich, dass Stoker die ins Englische über-setzte Zeile aus Bürgers (der in besagtem Band bis in den Index hinein konsequent als »Burger« geführt wird) Ballade »Lenore« –»For the dead travel fast.« – bereits getippt hatte, bevor er handschriftlich so etwas wie das deutschsprachige ›Original‹ hinzufügte: »Denn die Todten reiten Schnell [sic]«. Der Grund könnte sein, dass auf Jonathan Harkers Fahrt am Borgo-Pass Deutsch die Verkehrssprache ist (und Stoker sich auch eine exotisch-unheimlichere Wirkung davon versprach), bevor die vom Kutscher zum Grafen gewandelte Gestalt, im Schloss angekommen, die Konversation auf Englisch fortsetzt. 

Dass die Zeile überhaupt zur Anwendung kommt, ist – so vorgängig wie mutmaßlich – einer Passage aus dem von Stoker für seine Ausgabe von »Dracula« 1897 gestrichenen, ursprünglich ersten Kapitel (die heute als »Dracula’s Guest« bekannte, von seiner Witwe Florence 1914 mit den Zeilen:

I have added an hitherto unpublished episode from Dracula. It was originally excised owing to the length of the book, and may prove of interest to the many readers of what is considered my husband’s most remarkable work.

Florence Bram Stoker, 1914

nachgereichte Kurzgeschichte) geschuldet. Dort wird die englischsprachige Version als Inschrift auf der Rückseite eines Mausoleums (das knapp danach in die Luft fliegt und vernichtet ist) der »Countess Dolingen of Graz in Styria« – »sought and found death 1801« – ausgemacht: »On going to the back I saw, graven in great Russian letters: [/] ›The dead travel fast.‹« (Gleich darauf wird klar: Es ist Walpurgisnacht…)

Das Kapitel wird jedenfalls von Stoker nicht für den 1897 edierten Roman (er schrieb diskontinuierlich sechs Jahre daran) herangezogen, es werden auch verschiedene Passagen aus den nunmehrigen Kapiteln gestrichen, die sich darauf beziehen; eine Schnittstelle bleibt jedoch erhalten: die Anspielung auf Bürgers »Lenore«.

In Heinrich von Kleists Anekdote »Der Griffel Gottes« (in dessen Berliner Abendblättern am 5.10.1810 veröffentlicht) haben wir einen Grabstein mit darauf durch Blitzeinschlag neu gegossenen Buchstabenfolgen: »sie ist gerichtet«. Was vor dem Einschlag der manipulativen Elektrizität dort stand, wird nicht überliefert. In Bram Stokers »Dracula’s Guest« haben wir ein Mausoleum, in das der Blitz alles zerstörend einschlägt – doch der Held der Geschichte kann zumindest die (kyrillische) Inschrift einer deutschen Balladenzeile nachträglich bezeugen. Im frühen 19. Jahrhundert wird oft der Blitz eingeschlagen haben; es geht in den davon überlieferten Begebnissen nicht unwesentlich um Kommunikation und damit die Übertragung von vom Menschen nicht zähm-, nur bezeugbaren Kräften.

Bezeugbar scheint zumindest auch:

As he spoke he smiled, and the lamplight fell on a hard-looking mouth, with very red lips and sharp-looking teeth, as white as ivory. One of my companions whispered to another the line from Burger’s »Lenore«. [/] »Denn die Todten reiten schnell.« (»For the dead travel fast.«) [/] The strange driver evidently heard the words, for he looked up with a gleaming smile.

Stoker, Dracula, Chapter 1 (1897)

Die deutsche Zeile wird von Stoker von Hand ins Typoskript eingefügt, der Exotismus und sein Unheimliches finden zur Verkehrssprache, so wie der zitierte Autor von seiner deutschen in die englische Form transformiert wird. »Denn die Toten reiten Schnell.« – wenn in Kapitel 1 der eine Reisende dem anderen eine Zeile aus Gottfried August Bürgers »Lenore« – 1774 im Göttinger Musenalmanach erschienen – zuflüstert (und damit für den englischsprachigen Raum eine breite, einschlägig spannende Rezeptionsgeschichte von Walter Scott über Edgar Alan Poe et al. anspricht), hat Bürger in der Übersetzung ins Deutsche seine Umlautzeichen respektive Diakritika – wobei es von den Tremata zu unterscheiden bleibt –: sein ›ü‹. (Ein derartig horizontal gelagerter Doppelpunkt ist die Spur eines einst über den jeweiligen Vokal ›a‹, ›o‹ oder ›u‹ gesetzten ›e‹; z.B. aus der Abfolge ue > uͤ > ü heraus.) Im englischen Original – dass keine ä/ö/ü kennt – fehlen notwendigerweise die beiden Punkte; sozusagen der optisch-typografische Beleg dafür, dass Dracula – bis dahin hat er sich gegenüber Jonathan Harker nicht zu erkennen gegeben und ist nur unheimlich geratener Kutscher, der den halb unbewussten Fluchtversuch in letzter Sekunde vereitelt und Harker am Pass abfängt – noch nicht zugebissen und seine dentale Signatur hinterlassen hat.

Gottfried August Bürger setzte die fragliche Zeile mit manchen kleinen Abänderungen mehrmals in »Lenore« bzw. »Leonore« (hier zitiert nach dem Abdruck von 1778, bei Johann Christian Dieterich in Göttingen, S. 81–96): »Wir und die Todten reiten schnell.« (S. 89, Z 134), »Hurrah! die Todten reiten schnell!« (S. 90, Z 158), »Hurrah! die Todten reiten schnell!« (S. 92, Z 190), »Hurrah! die Todten reiten schnell!« (S. 94, Z 214), »Die Todten reiten schnelle!« (S. 94, Z 223)

William Taylor übersetzte in »Lenora« 1790 diese vier Passagen mit »Hurrah! the dead can ride apace;«, »Hurrah! the dead can ride apace;«, »Hurrah! the dead can ride apace;«, »The dead, the dead can ryde apace;«.

Walter Scott transformierte mit seiner – der in der englischsprachigen Rezeptionsgeschichte (von der bis in Poes »The Raven« mit »Lenore« sich vielfach Zeugnisse finden) vielleicht folgenreichsten – Übertragung »William and Helen« (1796) – wobei er eingestand, einige wenige andere Zeilen von Taylor übernommen zu haben, d.h. er kannte dessen Übersetzung – die Zeilen zu »Full fast I ween we ride;« (XXXIV), »Hurrah! hurrah! the dead can ride!« (XLIX), »And well the dead can ride;« (LV), »Hurrah! hurrah! well ride the dead;« (LVIII).

So weit die wilde Jagd, erst 100 Jahre später in Stokers »Dracula« wird aus dem »reiten«/»ryde«/»ride«, das wie ein ›write‹ sich spricht, ein »travel« (man reist mit der Kutsche), das schnelle Reiten und Schreiben wird zum Reit/sen–Reizen–Reisen und Tippen; Mina Harker wird eine Reiseschreibmaschine mit sich führen und es sind je ganz andere Schreib- und Fortbewegungsszenen.

(Ohnehin ist das ein Medienroman par excellence, worauf u.a. Kittler in einem Aufsatz – Dracula Vermächtnis – hinwies. Alle denkbaren medialen und kommunikativen Formatierungen im Zeichen des Fortschritts, bis zu den Verkehrsmitteln als Distinktionsausweis samt Fahrplänen, sind hier versammelt – eine bspw. auch bei Jules Verne bewährte Motivstrategie –; es fehlt allein der Film. Für die erzählte Zeit von 1890/91, als Stoker an dem Roman zu schreiben begann, womit er erst 1897 fertig wurde, wäre das zwar nur zu verständlich, was Kittler für seine Verlustanzeige eher egal ist. Aber der Film ist natürlich allgegenwärtig hier und bis in die letzten Zeilen hinein belichtet, wird mit jeder umgeblätterten Seite ein Stück weit mit abgespult – und braucht deswegen auch nicht erwähnt werden, denn bis zur Unkenntlichkeit verbunden sind hier der früheste Stummfilm und seine Bedingungen wie Folgen –: die Doppelgänger und Analytiker haben sich samt ihrer medialen Eigenlogiken und Folgekosten der Typoskripte bemächtigt und die Cuts der unterschiedlichen Textsorten und Erzählfiguren liefern in der Zusammenschau jenes Drehbuch, das wiederum von Mina Harker – dieser Sally Menke der aufgeklärten Mittelständler mit dem Knoblauch-Deo, Van Helsing/Bram Stoker/Jonathan Harker – geordnet wird. Ihre Schnittmuster und Ordnungen, Zuschreibungen, sind der Roman & vice versa.)

Stokers Dracula ist gar kein Vampyrroman, sondern das Sachbuch unserer Bürokratisierung.

Friedrich Kittler: Dracula Vermächtnis, 22.3.1982

Stoker selbst tippt mit der Schreibmaschine, ergänzt mit Bleistift, während Bürger, Taylor und Scott noch die Reiter in den Manuskripten auf den Friedhof sprengen ließen, die Braut mit sich ins Grab reißend. Mina wird in ihr »Journal« zum 30. Oktober (Kapitel 26) eintragen: »I feel so grateful to the man who invented the ›Traveller’s‹ typewriter, and to Mr. Morris for getting this one for me. I should have felt quite astray doing the work if I had to write with a pen…« Vor allem transkribiert sie, wie auch Stoker die Bürger-Zeile mit der Schreibmaschine über-setzte, bevor er handschriftlich nachlegte. Einen Monat zuvor (Kapitel 18) hatte sie noch im Diarium berichtet: »He [van Helsing; Anm.] made me sit next to him on his right, and asked me to act as secretary.« Sie möge das Protokoll führen, die Schreibmaschine des Weisen(Männer)Rats sein.

Frau Mina und ihre Buben, einschließlich Van Helsing, werden aber nur deshalb verstehen können, was abläuft, weil sie und ihr (übrigens rasend schnelles, unermüdliches) Abschreiben, ihr Tippen und ihre Ordnung, dies ermöglichen. Sie erst bringt Struktur und damit (Lese-) Verständnis, was nur über die Typo funktionieren kann (erst dann wird es für alle lesbar und Kurzschrift beherrschen ohnehin nur sie und ihr Mann Jonathan, der für Dracula Sekretär, Fremdsprachen- und Landeskundelehrer sowie Blutkonserve in einem ist) – während Bürger/Taylor/Scott ihre Wilhelms und Williams mit Lenore/Lenora/Helen auf dem Geisterross, dem Gänsekiel, durch die Nacht ins offene Grab brausen lassen. Reiten und ›writen‹ zwischen Ü und U.