Der Schieber

Titelei

Der fleißige Philipp und der faule Fritz [S. 1–3]

Das Avancement [S. 4–6]


Das Ding, das Einlauf man benennt
Und jeder zur Genüge kennt,
Ist nach der meisten Leute Meinung
Just keine liebliche Erscheinung:
Kaum hat man die papier’nen Schrecken,
Die ganz und gar den Tisch bedecken,
Mit Not und Mühe fortgebracht,
Daß wieder grün der Schreibtisch lacht,
So kommt, den Arm zum Brechen voll,
Der Diener aus dem Protokoll
Und legt mit kühlem Lächeln wieder
Ein ganzes Schock von Akten nieder,
Die, ein moderner Sysiphus,
Man jetzt in Arbeit nehmen muß.

Sind nun die Stücke dünn und klein,
Ist relativ gering die Pein,
Doch wehe, wenn der Diener spricht:
»Dies ist für heut noch alles nicht.«
Und wenn er extra schleppt heran
So eine Art Leviatan,
Den man mit Grausen und Entsetzen
Nur kann nach Kilogrammen schätzen!
Es wirkt das Exterieur allein
Schon lähmend auf die Nerven ein:
Den aufgedunsenen Leib umspannt
Ein schäbiges Faszikelband,
In seinem Innern aber stecken
Papiere mit verschlissnen Ecken,
Die ungemütlich anzufassen,
Das Allerschlimmste ahnen lassen.

Man grüßt mit einem scheelen Blick
Das unerwünschte Aktenstück,
Dann – legt man es beiseite. »Morgen« –
So denkt man, »will ich das besorgen.« –
Erscheint man andern Tages dann
Und schaut sich seinen Schreibtisch an,
So stört das dicke Aktenvieh
Die ganze schöne Symmetrie.
Es gibt jedoch so viele Sachen,
Die dringend und zuerst zu machen,
Daß, nolens volens, doch zum Schluß
Der Dicke wieder warten muß.

Und auf die andere Seite dann
Legt still man den Leviatan.
So geht es fort; – doch mit der Zeit
Verliert das Ding an Widrigkeit,
Der Akt, der einst so lästig war,
Gehört zuletzt zum Inventar,
Bis daß er, ehe man’s vermeint,
Im Rückstands-Ausweis schnöd erscheint.
Da nimmt nun der Leviatan
Bedenkliche Manieren an:
Zuerst da schaut er vorwurfsvoll,
Daß man ihn bald erlösen soll,
Jedoch nach wenigen Tagen schon,
Da grinst er frech und scheint zum Hohn
Den dicken Leib nach allen Seiten
Wie eine Kröte auszubreiten, –
Ja, endlich speit er Gift und Feuer
Gleich einem wüsten Ungeheuer,
Und selbst im Traum der stillen Nächte
Verlangt er drohend seine Rechte.

Da reift, es ist ein hartes Muß,
Ein ganz heroischer Entschluß,
Und heftig wird der dicke Akt
Mit Selbstverleugnung angepackt.

Der Strauß des Ritters mit dem Drachen
Ist gegen diesen Kampf zum Lachen:
Was sind des Helden blanke Waffen
Verglichen mit den Paragraphen?
Ein Schild, auch aus dem besten Stahle,
ist nicht so fest wie ein Normale,
Auch ist ein Roß im Kampfgewimmel
Nicht so verläßlich wie der Schimmel.
Mit solchem Rüstzeug angetan
Bekämpft man den Leviatan.
Man wühlt mit wahrer Schadenfreude
In seinem tiefsten Eingeweide,
Man felbert alles, was zuwider,
Mit rücksichtslosem Griffel nieder
Und ruht nicht, bis zum Expedit
Der überwund’ne Feind entflieht.
Dies nennen Menschen ohne Schwung
Ganz nüchtern »die Erledigung«.

Doch eine andere Methode
Ist auch bei vielen in der Mode:
Der eigentliche Gegenstand
Bleibt unerörtert vorderhand;
Es fehlt ja nicht an manchen Dingen,
Die noch zuvor auf Klärung dringen;
Zum Beispiel eine Unterschrift,
Von der nicht klar, wen sie betrifft,
Ein Datum, eine Zahl, ein Name,
Ein Ausweis, eine Einvernahme –
Kurz, ohne irgend sich zu schinden,
Kann man der Gründe manche finden,
Daß einer anderen Behörde
Das Scheusal übermittelt werde.

Es kommt ja freilich dann das Stück
In absehbarer Zeit zurück,
Indes ist mühelos und leicht
Der eigentliche Zweck erreicht:
Der Akt ist weg vor allen Dingen;
Das andere wird die Zukunft bringen:
»Denn kehrt zurück der Wanderer,
Kriegt ihn vielleicht ein anderer«.

Dies Vorgehn ist gar vielen lieber,
Man nennt dasselbe kurzweg »Schieber«.

Wir haben früher schon gesehen,
Was mit dem Philipp war geschehen.
Wo war der Fritz in dieser Zeit?
Ei schau! Der ist ja auch nicht weit:
Man hatte ihn als Füllsel eben
Dem Chef des Philipp beigegeben.
Da hatte er es recht bequem
Und dieses war ihm angenehm:
Er ließ die Akten wacker liegen
Und fand sogar daran Vergnügen!
Doch war zuletzt der Aktenstoß
Auf seinem Tische gar zu groß,
Dann kam der gute Philipp her
Und fegte alles wieder leer.

Kein Mensch läßt absolut vermissen,
So meinen Denker, das Gewissen;
Nur gibts enorme Differenzen
Bezüglich der Erregungsgrenzen.
Bei Fritz war es robust gebaut
Und hatte eine dicke Haut:
Was vielen andern unerträglich,
Dem Fritz erschien es ganz alltäglich.
Doch einst entstand trotz alledem
Ein psychologisches Problem,
Und es geschah das Unerhörte,
Daß sein Gewissen sich empörte.
»Nein«, dachte er, »Du solltest nun
Auch einmal selber etwas tun« –
Und er empfand in seiner Brust
So eine Art von Arbeitslust;
Drum nahm er kecklich in die Hand
Den dicksten Akt, den er nur fand,
Wobei, wenn auch kaum merkbarlich,
Ein Teil der Arbeitslust entwich.

Nun ward mit Vorsicht und Bedacht
Der Aktendickling aufgemacht.
Pfui Teufel! Schriften, wirr und kraus,
Die quollen massenhaft heraus.
Bei diesem Anblick, der ihm peinlich,
Sank Fritzens Stimmung augenscheinlich;
Jedoch er dachte standhaft »Nein,
Heut muß es aber wirklich sein!«
Und innerlich gefaßt sodann
Fing emsig er zu lesen an.
Doch bald schon war es schrecklich klar,
Was dieses Aktes Inhalt war:
Der arme Fritz! Es ward ihm schlecht:
Der Fall betraf ein Heimatrecht.
Und wieder sank, weil solches schrecklich,
Die Arbeitsstimmung sehr erklecklich.

Nun sind ja auch die Heimatsachen
Geeignet, einen toll zu machen;
Denn auf der Suche nach der Wahrheit
Vermißt man überall die Klarheit.
Zunächst bereitet schon Entsetzen
Der Rattenkönig von Gesetzen,
Die aus verschiedentlichen Gründen
In solchen Fällen Geltung finden;
Denn selten geht’s darauf hinaus,
Daß einer selber wo zu Haus,
Meist leitet man dies Recht vielmehr
Von Eltern oder Ahnen her,
Wobei, dies findet häufig statt,
Fast niemand einen Vater hat.
Durch diesen Umstand aber wird
Die Sache äußerst kompliziert,
So daß sich schließlich keiner wundert,
Geht’s bis ins achtzehnte Jahrhundert.
Und ach, für jegliches Geschlecht
Bestand ein anderes Heimatsrecht,
Das erbt sich nach dem Dichterwort
Wie eine ewige Krankheit fort.
Sodann auch zählen die Gemeinden
Hier zu den allerschlimmsten Feinden,
Denn jede, die man fragt, die spricht
Beleidigt: »Uns gehört er nicht!«
Wer je nur in Betracht gekommen,
Wird in der Sache einvernommen,
Aus allen möglichen Matriken
Läßt man sich einen Auszug schicken – 
Auf diese Weise wird das Stück
Natürlich ungeheuer dick,
Doch wäre der ein Optimist,
Der sagt, daß es nun klarer ist.

Drum können diese Heimatsachen
Selbst einen Engel wütend machen,
Und ganz und gar am Platze wäre
Das Wort »quiete non movere«,

Auch Fritz war binnen kurzem bös,
Das Lesen machte ihn nervös,
Dann waren die verschiedenen Schriften
Für ihn ein Anlaß, sich zu giften;
Sein Arbeitseifer aber war
Dem Nullpunkt nahe, das ist klar.
Doch hat er seine Willenskraft
Zum Letztenmale aufgerafft
Und sprach mit festem Mute »nein,
Der Akt der muß erledigt sein.
Doch wollt ich lesen all den Schund.
So käm‘ ich völlig auf den Hund.
Ich muß bei solchem Stand der Sachen
Halt wieder einen Schieber machen.
Na warte nur, dich krieg ich bald,
Und gehst du nicht willig, so brauch ich Gewalt!«

Mit neuen Kräften fing er dann
Zu blättern und zu suchen an
(Und dieses war auch seinem Wesen
Weit angemess’ner als das Lesen);
Da wandelte nach kurzer Zeit
Sein Ärger sich in Heiterkeit,
Denn auf des Aktes tiefstem Grund,
Da macht’ er einen schönen Fund:
Ein Totenschein ex offo war
– Warum, ist allerdings nicht klar –
Dem dicken Akte beigeschlossen;
Auf diesen ist der Fritz gestoßen.
»Haha, das trifft sich ja famos!
Nun ist die Arbeit nicht mehr groß!«
Und den ex offo Totenschein
Warf in den Ofen er hinein.
Dann, ohne Selbstbeschädigung
Ersann er die Erledigung:
»Der Totenschein ex offo wird
Nun von der Pfarre requiriert.«
Und schneller noch als er gesagt,
Erledigt war der dicke Akt.

Es war nach dieser Geistestat
Der Fritz gar sehr erschöpft und matt,
Sein Vorrat an Gedanken war
Damit zu Ende ganz und gar;
Im Kopfe ging es ihm herum
Gleich einem Mühlrad, und darum
Beschloß er, in den nächsten Tagen
Der Arbeit gänzlich zu entsagen,
Was diesem schwer geplagten Mann
Wohl auch kein Mensch verübeln kann.


Die Einberufung [S. 13–17]

Fritz »oben« [S. 18–25]

Philipps Erhöhung [S. 26–31]