Gedächtnis (1)

Gedächtnis stellt somit nicht nur ein der Zeit und dem Inhalt nach auffächerbares Phänomen dar, sondern auch eines, das in ein möglicherweise mehrdimensionales Netzwerk eingebunden ist. Episodische Information beispielsweise wird über die Sinnessysteme aufgenommen, in weiteren Stufen des sensorischen Systems (bis hin zu corticalen Strukturen) weiterverarbeitet und kurzfristig gespeichert, dann den Flaschenhalsstrukturen des limbischen Systems zugeführt, in denen die Assoziation – und vermutlich Synchronisation – mit anderen Informationsebenen (Motiven, Emotionen) erfolgt und die dann als »speichernswert« identifizierte Information den Engrammplätzen im cerebralen Cortex zuführen. Reaktivierung und Decodierung des Gespeicherten für den Abruf verlangt dann vermutlich vor allem eine konzertierte Aktion von Stirnrinde und Schläfenlappenspitze.
Was die Einspeicherung episodischer Information über die Flaschenhalsstrukturen betrifft, so geht man hier seit Jahrzehnten von ringförmig miteinander verwobenen Strukturen, gleichsam Kettengliedern, aus. Dieser Ring des limbischen Systems enthält Strukturen, die sich vom Zwischenhirn als Nabe ausgehend wie eine Art Speichenrad saumförmig an neocorticale Strukturen entlang der Hirnmitte heranschieben und die für die Übertragung episodischer Information vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis essentiell sind. Traditionell wurden diese Strukturen in Bereiche aufgeteilt und der Ring auch noch einmal zweigeteilt. Die drei im End- und im Zwischenhirn liegenden Bereiche werden in drei Großkomplexe zusammengefaßt: das »mediale Diencephalon«, das »basale Vorderhirn« und der »mediale Schläfenlappen«; die Ringe werden als Papezscher und als basolateraler limbischer Kreis bezeichnet. Obwohl die […] Auflistung einer Zergliederung gleichkommt, ist wichtig zu betonen, daß diese Strukturen grundsätzlich ein als Einheit zu verstehendes Netzwerk darstellen – die Faserzüge bilden die Klammern, die die einzelnen Bereiche zusammenfassen und die Integration sensorischer (»von der Außenwelt kommender«) und motivational-emotionaler (»von der Innenwelt kommender«) Kanäle ermöglichen.
Der Netzwerkcharakter impliziert natürlich auch, daß die Unterbrechung einzelnerVerbindungen(d. h. von »weißer Masse«) schwerer wiegende Gedächtnisstörungen verursacht als die (unvollständige oder unsymmetrische) Schädigung einzelner Kern- und Cortexgebiete, also der »grauen Masse« des Gehirns. Amnesie wird folglich […] meist als Diskonnektionssyndromaufgefaßt.

Markowitsch, Hans J.: Das Gedächtnis des Menschen. Psychologie, Physiologie und Anatomie. In: Neue Horizonte 97/98: Gedächtnis und Erinnerung. Hg. v. Ernst Peter Fischer. München: Piper 1998, S. 167-231; hier: S. 221f.

Im Netzwerk reduziert sich Schreiben auf die Manipulation elektronischer Impulse, was für den Computer ebenso gilt wie für das menschliche Gehirn. Nachdem sich Technik und Physiologie so nahe gekommen sind, ist der Abstand praktisch geschlossen, den die Vielfalt der Bilder [Metaphern für das Gedächtnis und die Erinnerung; Anm.] zu überbrücken strebte. Das Netzwerk als externalisiertes globales Nervensystem unter- und überbietet zugleich alle Metaphern, die bislang das Phänomen der Erinnerung in technische, gegenständliche und praktische Metaphern übersetzten. Mit dem Netz ist die Metaphorik der Erinnerung an eine Grenze gekommen, an der die Imagination implodiert.

Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung. Ein Rundgang durchs historische Museum der Imagination. In: Neue Horizonte 97/98 (s.o.), S. 111-164; hier: S. 161.

Mit sicherheit gilt, daß stets eingeschrieben (inscrire) werden muß, ob beim cortex oder bei dem, was wir, übersetzt in soziokulturelle termini, schreiben (écriture) genannt haben. Denken ohne einzuschreiben, also ohne stütze (support), geht nicht. Diese stütze kann alles mögliche sein. Es gibt momentan veränderungen in der stütze. Man besitzt vielleicht noch nicht die ›richtige‹ stütze. Vielleicht sind all die bildschirme noch schlechte stützen, weil sie gegenüber der handschrift und der tafel noch zu analog sind. […] Jedenfalls liegt die minimale voraussetzung im einschreiben.

Lyotard, Jean François: Statement. In: kultuRRevolution 14/1987, S. 10f.

Im Zeitalter der Computertechnologie, der Biotechnologie und der allgemein akzeptierten darwinistischen Evolutionsprinzipien muß das neue Modell des Wandels natürlich auf biologischen Grundlagen aufbauen oder in Analogie zu biologischen Mechanismen stehen. Die neue Wissenschaft, die Memetik, ein Begriff, den der Evolutionsbiologe Richard Dawkins geprägt hat, löst diese Ansprüche ein. Ähnlich wie Gene egoistisch miteinander konkurrieren oder zusammenarbeiten und mittels ihrer Überlebensmaschinen, der Organismen, durch die natürliche Selektion die Chance finden, sich zu reproduzieren und zu verbreiten, soll es auch Meme geben, grundlegende Informationseinheiten, die nichts anderes im Kopf haben und in die Köpfe der von ihnen Befallenen bringen, als sich gleichfalls zu reproduzieren und zu verbreiten. Sind die Organismen die Wirte der egoistischen Gene, die sie gleichzeitig auch als ihr Vehikel zur Replikation erbauen, so sind die Gehirne der Menschen, einmal von den Genen geschaffen, die Wirte der Meme, die wie Viren in sie eindringen, sie in ihren egoistischen Interessen verändern, Verhaltensänderungen hervorrufen und schließlich, wenn es denn gelingt, sich von einem Gehirn aufs andere verbreiten und dabei mutieren. […] Die Memetiker sehen denn auch mit den Medien und Computernetzen ein globales Gehirn heranwachsen, das sich immer dichter vernetzt, dessen Inhalte Meme darstellen und dessen Neuronen die Menschen sind, die vor ihren Geräten sitzen oder von ihnen überwacht werden. […] Da stehen wir also unschuldig mit unserem Gehirn, einer Maschine, die auf alles Neue lauert, nach Reizen giert und nicht anders funktioniert als ein Staubsauger, nur ungenügend geschützt vom kognitiven Immunsystem, das je älter, desto effektiver die Meme abwehrt, und sind umgeben von Schwärmen von Memen, die sich in unser Innerstes und Eigenstes einnisten wollen. […] Aber alles, was eine Kultur ausmacht, so sagen uns die Memetiker, sind gerade die Meme, die in den Köpfen der Menschen sitzen und Religionen, Fundamentalismen, Programme ausbrüten. Genozide sind Schlachten der Meme, die von ihren Überlebensmaschinen, den Menschen mit ihren infizierten Gehirnen, ausgeführt werden. So paßt also alles zusammen und fördert das Mem der Memetik. Und wer skeptisch ist, bei dem kommt das Mem zur Abwehr von fremden Memen zur Geltung oder bloß das Mem, das uns listig glauben macht, wir wären noch Herr über unsere Gedanken. Kein Problem für die Memetik. Leuchtet Ihnen das ein? Dann sind Sie schon infiziert. Wollen Sie Mem-Infektionen vermeiden? Schließen Sie sich in eine Hütte in der Ödnis ein, koppeln Sie sich von allen Medien und Menschen ab, und führen Sie das Leben eines Einsiedlers, eines Mönchs des Informationszeitalters.

Rötzer, Florian: Wenn Sie das lesen, sind Sie schon infiziert. In: Die Presse v. 7. März 1998, Beilage »Spectrum«, S. 1f.