Karl Kraus: Gespenster. In: Die Fackel, H. 514–518 v. Ende Juli 1919 [Deckblatt: August 1919], S. 21–86.
Cf. Die Fackel
Karl Seitz, als Präsident der Nationalversammlung (damit zugleich Staatsoberhaupt), gratuliert Karl Kraus zum zwanzigjährigen Jubiläum der Fackel (das am 1. April 1919 war) am 1. Mai 1919 unter anderem mit den Dankesworten:
Die Vollendung des zwanzigsten Jahres, seitdem die Fackel zu erscheinen begonnen hat, gibt mir den erwünschten Anlaß, Ihnen für das große Werk, das Sie in diesen zwei Jahrzehnten zur Reinigung, Versittlichung und Vergeistigung des öffentlichen Lebens geleistet haben, meinen aufrichtigsten Dank zu sagen.
Kraus setzt dieses Schreiben und seine mehr als 60 Druckseiten umfassende Antwort unter den Titel »Gespenster« und legt seine Sicht auf die Presse dar, auch Bezug nehmend auf die Jahre des Krieges und seiner Berichterstattung, die Frage des Auslösers und Aufrechterhalten des Kriegszustands mit sozusagen geistigen Mitteln. Er entlässt niemanden aus seiner Pflicht, insbesondere die prominenten Schreiberlinge des Kriegspressequartiers und -archivs (das ja in der ersten Republik wieder dem Außenministerium als Pressestelle angegliedert wird, mit dessen Redakteuren dann wiederum die Organisationseinheit »Bundespressedienst« formiert wird). Diese seine Volten gegen die »Gespenster« – vor dem Hintergrund des 1919er Jahres, der Umbrüche und gleichzeitig personellen wie ideologischen Kontinuitäten – lassen sich beispielhaft mit der Lektüre seines Textes »Das technoromantische Abenteuer« (Die Fackel, H. 474–483 v. 23.5.1918, S. 41–45) ergänzen.
Wie sehr Sie meine Leistung überschätzen, wie wenig ich in zwei Jahrzehnten zur Reinigung, Versittlichung und Vergeistigung des öffentlichen Lebens vollbracht habe, soll eben dieser Fall beweisen und in zwingender Folge wird sich ergeben, wie berechtigt noch heute mein Gespensterglaube ist und wie gut meine Überzeugung, daß tausend pensionierte Mörder kein revolutionärer Erfolg sind, wenn zehn aktive Schreiber unsre Geschicke lenken.
Kraus, Gespenster (1919), S. 22
Ob die Verschmutzung, Entsittlichung und Verdummung des öffentlichen Lebens eher von einer schlechten als von einer dummen Presse bewirkt wird, ist in einem Zeitpunkt nicht zu entscheiden, wo wir eine an und für sich verderbliche Einrichtung von Individuen gehandhabt sehen, denen in diesem Krieg der vernichtende Beweis gelungen ist, die Geistlosigkeit zur Tat zu gestalten. Die vollkommene, der maschinierten Menschheit angepaßte Möglichkeit, das Erlebnis an Leben und Tod drucktechnisch zu ersetzen, und die geheimnisvolle Vergeltung der nicht unterdrückbaren Natur, die aus dem Bericht das Ereignis, aus der Maschine die Tat, aus dem Abbau der Phantasie diese furchtbare Ersatzwelt der Dinge und Worte erstellt hat: hier spricht uns ein neues Lebensgefühl an.
Bei jedem Bissen, den sie nicht zum Munde führt, gedenkt die Dummheit der Monarchie, aber nicht mit Verwünschungen, sondern in Sehnsucht, denn sie weiß sich doch noch zu erinnern, daß es in der Monarchie, ehe sie den Krieg begann, Kaisersemmeln gegeben hat. Da war’s doch schöner, sagt sie, und verhilft dem resoluten Dramatiker, der mit kundiger Hand an diese Wunde rührt und auf der Bühne des des Deutschen Volkstheaters einfach »O du mein Österreich« aufspielen läßt, zum Erfolg der Saison. Die einzige Konsequenz, deren der hiesige Menschenschlag, geschaffen, durch Schaden dumm zu werden, doch fähig ist, ist die, ihn noch einmal zu erfahren. Hat er stets über dem Heute das Morgen vergessen, so vergißt er nun das Gestern fürs Vorgestern.
Kraus, Gespenster (1919), S. 23f.
Wenn der ganze Haufe von Regenten, Diplomaten, Generalen und allen Rädelsführern der kriegerischen Handlung, nicht zu vergessen die nur scheinbar entfernt Schuldigen, die Schieber und Schreiber, zusammengetrieben würde, so ergäbe das etwa die Stärke der in Shakespeareschen Königsdramen aufgebotenen Heeresmächte, innerhalb deren die Fürsten, Feldherrn und Lords von Mann zu Mann kämpfen und somit eine Tätigkeit ausüben, die bekanntlich den Wilhelm, Tirpitz, Ludendorff, Clemenceau, Berchtold und andern Kriegsfreiwilligen infolge Unentbehrlichkeit erspart geblieben ist. Alter dürfte von einer Leistung nicht befreien, zu deren Anschaffung sich das Individuum rüstig genug fühlt. Wenn nun von Schuft zu Schuft auch nur jene Kampfmittel zur Anwendung gelangten, die im Ehrenhandel oder im alten Krieg gebräuchlich waren; wenn die streitenden Führer von den geeinigten Sklaven gezwungen würden, mit dem Degen und nicht mit der Granate in der Hand die Sache zu erledigen, sie wäre für alle Zeiten erledigt und nie mehr wäre die Zunft, die nun wüßte, daß die ultima ratio erst die vorletzte sei, des Mutes fähig, die immer wieder verwirrbaren Vaterländer von neuem zu verwirren. Bei sotaner Gelegenheit könnten auch die Generale der Zentralmächte ihre Streitigkeiten, durch die sie dartun wollen, welcher von ihnen da und dort mit besserer Wirkung ein paar hunderttausend Menschen »eingesetzt« und zu frischem Draufgehn veranlaßt habe, und mit denen sie jetzt eine nicht nur ausgeblutete, sondern auch gelangweilte Öffentlichkeit molestieren, auf eine dem Streitthema mehr angepaßte Art untereinander austragen. Es ist doch wirklich noch eine Steigerung aller Absurdität, daß diese Anführer unserer Dummheit, die selbst wenn sie die Schlachten, die sie verloren haben, gewonnen hätten, noch immer gut daran täten, sich nach einem anständigen Metier umzuschauen, da ja Bauhandwerker künftig viel gesuchter sein werden als Strategen, daß diese Heimkehrer sich entschlossen haben, Kriegsberichterstatter zu werden, als ob wir noch Bedarf nach dieser Belletristik hätten und als ob die überlebenden Opfer ihres eigentlichen Berufs nicht schon am Ekel über dessen Schilderungen erstickt wären. Es ist doch wohl eine Ungebühr, die an Leichenschändung grenzt, daß sie vor eben jenem Publikum, das mit Flüchen ihrer ursprünglichen Tätigkeit gedenkt und solange es nicht einmal weiß, wo seine Toten begraben liegen, keine Entscheidung zwischen Conrad und Brudermann treffen möchte, ihre geschätzten Offensivpläne zu gegenseitiger Herabsetzung ausbreiten. Wie? sie nehmen einfach nicht zur Kenntnis, daß uns der an uns begangene Totschlag genügt und daß wir infolgedessen zu abgespannt sind, um noch etwas für authentische Darstellungen übrig zu haben? Wie, es muß auch noch Tinte fließen? Aber die hat’s doch verschuldet, die taugt doch nicht zur Rechtfertigung des Bluts! So wird ihnen das Menschenmaterial, soweit es noch vorhanden ist, beweisen, daß es eine undankbare Leserschaft abgibt, daß es Sortimenter und Zeitungen, die polemisierenden Generalen Unterschlupf gewähren, meidet und daß es im Siechenhaus dieser glorreich zerschlagenen Welt andere Sorgen hat, als vazierenden Fibelfiguren den endgiltig verschütteten Nachruhm zu ersetzen.
Kraus, Gespenster (1919), S. 27–30
Vor nichts fürchte sich einer mehr als vor Gespenstern, die man verjagt hat und die noch da sind. Solange wir die Journalisten haben, haben wir sie alle! Von der schwarzen Magie, durch welche die Welt ganz nach Voraussage untergegangen ist, sind sie alle angezogen, und immer bleibt noch ein Stück Welt, ein Stück Geist, ein Stück Natur, das sie, in ihr unsagbares Element es einbeziehend, uns ertöten könnten. Gespenster sehe ich überall, wo ein illegitimer Anspruch, von der Fibel her oder von der Presse, Lebensgüter zu enteignen droht. Gespenster sind noch dort, wo nach ihrer Verjagung die müde Menschheit einschlafen möchte: gleich wird die Morgenluft schlecht, denn Intelligenzen ziehen ein. Gespenster sind immer Diktatoren: mit dem goldenen Kragen, den man auf dem Feld der Schande erwirbt, oder mit dem roten Halstuch, das man im Kaffeehaus trägt. […] Wäre nur Armut und nicht auch Dummheit der Rest dieser großen Tage, gäb’s nur Invalide durch Kanonen und nicht auch Opfer der Rotationsmaschinen, unvorstellbar wär’s, daß ein Dreckhaufen von hysterischen Freigelassenen, denen eine Reklamenotiz bisher wichtiger war als die soziale Frage, unsere Elendswelt mit Herrschgelüsten heimsuchen möchte; […] daß von ungewaschenen Wulstlippen der Weckruf einer neuen Welt tönt; daß der Ehrgeiz, der auf Literaturbörsen Erhitzung und Erfolg geschmeckt hat, nun auch Blut kosten will; daß die Märtyrer des Weltkriegs nunmehr als Vorwand für das Geschäft von Buben gut sein mögen, die, als Ästheten von Natur aus unglaubwürdig, sich hinter dem Ofen einer Kriegskanzlei in Aktivisten verwandelt haben[.]
Anstatt daß die Literaten, die in den fünf Jahren des Zwangs zu Mord und Lüge, der Tot- und Dummmacherei, durch Schweigen, wenn nicht durch Rekommandierung des Heldentods von diesem enthoben waren, sich heute vor Scham in die freigewordenen Unterstände und rühmlichst ausgeputzten Schützengräben verkriechen, schwillts in den Preßquartieren und Kriegsarchiven von posthumem Freiheitsdrang. Sie machen mit.
Kraus, Gespenster (1919), S. 32
Es wird nicht glücken, die Welt zu entwaffnen, solange sie, unfähig zum Widerstand gegen Lektüre, noch Blei für Lettern hat.
Kraus, Gespenster (1919), S. 46
Denn er [Hermann Bahr; Anm.] hat ja doch das Büchlein »Kriegssegen« geschrieben und dem Hofmannsthal ans Wachtfeuer, es gebe doch »kein größeres Glück, als dabei zu sein«, nämlich beim Marschbataillon und nicht beim Kriegsfürsorgeamt, und das habe »unserem armen Geschlecht der große Gott beschert«. Und nannte den Zeitpunkt, da hundert Millionen den Mörsern, den Minen, den Gasen, den Handgranaten, den Flammen, dem Frost, den Lawinen, den Henkern, dem Kerker, dem Wucher, der Lyrik, dem Tod, der Verstümmlung, der Erblindung, der Lues, der Tuberkulose, dem Flecktyphus, dem Hunger, der Not, dem Diebstahl, dem Raub, der Armut, der Sorge, der Qual, dem Haß, der Dummheit, der Lüge, der Schmach, der Eifersucht, der Verzweiflung, dem Wahnsinn, dem Ekel, den Plagen, den Läusen, den Journalen überantwortet waren: einen heiligen Augenblick, dessen ungeheures Glück uns Gott erhalten möge!
Kraus, Gespenster (1919), S. 54
Man konnte — von der prinzipiellen Infamie einer geschehenen Hinrichtung abgesehen — gegen alle Taten, die das nachkriegerische Deutschland vollbracht hat, und zumal gegen eine behördliche Unterlassung protestieren: da diese Schandjustiz mit der Verfolgung der Mörder Liebknechts und Rosa Luxemburgs zögerte und dann mehr Milde angebracht fand als für den Verkehr deutscher Mädchen mit französischen Kriegsgefangenen. Im Fall Toller hat die Unwissenheit der Literaten die Begriffe Standgericht und Standrecht verwechselt und den Blutdurst des Bürgertums wie sonst nur dessen Lesedurst überschätzt. Herr Romain Rolland, den ich von diesem Hang keineswegs freisprechen kann, hat es seiner Kenntnis der deutschen Seele angepaßt gefunden, auf den »edlen Jüngling Toller« als auf ein Vorbild des wiedergebornen Deutschland hinzuweisen. Ich meine, daß Herr Romain Rolland, dessen menschenbrüderliches Fühlen über alle Zweifel erhaben ist, wenngleich er es die Kriegszeit hindurch mit größerer Wirkung in der kriegführenden Heimat statt in einem neutralen Land bekundet hätte, doch wohl vermeiden sollte, den Typus der neuen Menschlichkeit und einer kriegsentwöhnten deutschen Gesittung voreilig auszurufen. Auch meine ich, daß diese Weltumarmungen, die jetzt etwa zwischen Barbusse, der doch sein echtes Kriegserlebnis bewahrt, und Herrn Hofmannsthal, der unter dem Prinzen Eugen gedient hat, ausgetauscht werden; daß dieses Brücken- und Voltenschlagen zwischen den europäischen Kriegspressequartieren und die neutralen Händedrücke solcher, die ohnedies zusammen in der Schweiz waren; diese Bemühungen der »Geistigen«, sich als Wiedergeburtshelfer einer zunächst auf Brot erpichten Menschheit anzubieten, kurz die kosmopolitischen Herzenssachen, die so zwischen Romain Rolland und seinem Wiener Zweigunternehmen spielen, eine eher störende als beträchtliche Angelegenheit sind. Und wenn Herr Bahr trotz Erfüllung des Kriegssegens schlaflose Nächte hat und Herr Hofmannsthal den Haß abbaut, den er mühsam durch vier Jahre aufgebaut hat, so wird die Genugtuung, daß man uns den Humor nicht nehmen konnte, kaum für die Verluste dieser Gegenwart entschädigen. Bescheidenheit ist ein besseres Verständigungsmittel als die Promptheit, die den wieder geöffneten Sprechsaal Europas okkupiert, und das Gelöbnis, wenn wieder einmal Krieg ist, die Musen nicht mittanzen zu lassen, sondern kuschen zu machen, wenn sie sich schon nicht zu protestieren trauen, wäre die einzige Aufgabe eines europäischen Geisterbundes. Wer heute lieber einem Bombenwerfer die Hand reicht als einem Mitglied des Kriegsarchivs, sollte froh sein, daß der Krieg »Verwirrung in unsere Reihen gebracht hat«, anstatt mit den intellektuellen Urhebern der europäischen Schmach sich zu verbrüdern. Wenn die Herren Intellektuellen »niemanden anklagen wollen« von jenen, »die ihre Wissenschaft, ihre Kunst, ihre Vernunft in den Dienst ihrer Regierungen gestellt haben«, so sind sie daran, ein Verbrechen zu vertuschen, das weit schwerer wiegt als das der Regierungen, und die feigen Helfer des Mords und Selbstbewahrer durch fremden Ruin, diese Animierherren in allen Kneipen des tragischen Karnevals, nun ans Geschäft der Humanität zu lassen und zu der billigen Gelegenheit, Katzenjammer für Reue auszugeben.
Kraus, Gespenster (1919), S. 62–64
Ich weiß um die Schwäche der vereinzelten Dreckseelen, die russischem Sumpftod und bosniakischen Gurgelbissen lyrisch zugesprochen haben, und heute nicht zögern, sich von den Massenbewegungen, die das Hinterland aufrühren, inspirieren zu lassen. Zu glaubhaft ist die Entschuldigung, sie hätten mitgehn, am Schreibtisch mitgehn müssen: »Denn nichts war ja vorgesehen, um widerstehen zu können«. Freilich, das einzige, was einen Widerstand ermöglicht hätte, der geistige und sittliche Charakter, war nicht vorhanden, er ist auch durch den Umsturz nicht zugewachsen und darum wird, solange das Halbgeschlecht zum Ersatz Druckerschwärze findet, beim Räuber- und Wächterspiel mitgetan werden. Und je nach dem Tagesbedarf der Anschluß an die Nation oder an die Menschheit stattfinden.
Kraus, Gespenster (1919), S. 65
Und die evangelische Miene, die hier den Welterlös quittiert; der puritanische Eifer, der mit offenen Händen redet, um zu zeigen, daß sie leer sind; die sittenrichterliche Strenge, die zu 50 »v. H.« von der eigenen Reinheit lebt, zum andern Teil vom Schmutz der Welt — dieses neuorientierte Revolvertum, das sich à tout prix nicht bestechen lassen will und eigentlich durch seine Beziehungen zu Roten Garden mehr den Typus der Handgranatenjournalistik vorstellt, es ist denn doch nachgerade die unerträglichste Spezialität unserer journalistischen Schreckenskammer.
Kraus, Gespenster (1919), S. 80
Der Mangel an Vorstellungskraft hat den Krieg ermöglicht; ein Rest von ihr ist nötig, um seine Ursache zu erkennen. In diesem Circulus vitiosus geborgen, brandschatzt der Journalismus weiter alle Besitztümer der wehrlosen Menschheit. Nichts anderes ist ihr zu wünschen, nichts mit inbrünstigerer Sehnsucht, nichts unter freudigerem Verzicht auf die mutigste Anonymität, als daß die Republik, die Blutsverwandtschaft erkennend, mit den hinterbliebenen Parasiten der Kaiserzeit wie mit den Mitessern der Revolution ein Ende mache; daß endlich Männerstolz vor Herausgeberthronen einem Gewerbe, welches unter dem ruchlosen Vorwand der Preßfreiheit das Volk in den Tod lügt, éiner [sic] Industrie, der nichts übrig blieb als den Geist Müßiggang zu nennen, die Maschinen zerbreche. Dann erst — glaube ich, Herr Präsident — werden die Gespenster verjagt sein!
Kraus, Gespenster (1919), S. 86