Hysteron-Proteron

Moriamur et in media media ruamus.
(nach Vergil; anonym, spätes 20. Jhdt.)

Das Futur II ist das Tempus der Verwaltung, es ist zugleich die Gedanken- und Zeitkonstruktion des Nachlasses; des Nachlassgeschehens. Stets wird etwas geschehen sein. Die Figur des Hysteron-Proteron einer administrativen Rhetorik zuzurechnen, wäre zumindest fünf, sechs Sekunden denkbar.


Er hatte schon seit einiger Zeit, obgleich er verschiedene Anfragen seines Vaters wegen der Parallelaktion und der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu beantworten verabsäumt hatte, kein Mahnschreiben erhalten, ohne daß es ihm aufgefallen wäre; nun meldete ihm das Telegramm in einer ausführlichen, aus halb unterdrückten Vorwürfen und voller Todesfeierlichkeit wunderlich gemischten Weise, die sein Vater offenbar selbst noch auf das genaueste geregelt und aufgesetzt hatte, das Ableben seines Erzeugers.

Musil, MoE Kap. I.123 [1930]

Um es mit einem Wort zu sagen, das ebensowenig einwandfrei ist: Ulrich fühlte etwas »seelisch Stoffloses«, darin man sich so verlor, daß es die Neigung zu zügellosen Einbildungen erweckte. Er trug das sonderbare Telegramm seines Vaters in der Tasche und kannte es auswendig: »Setze dich von meinem erfolgten Ableben in Kenntnis« hatte der alte Herr ihm mitteilen lassen – oder sollte man sagen mitgeteilt? – und darin drückte sich das schon aus, denn darunter stand die Unterschrift »dein Vater«. Se. Exzellenz, der Wirkliche Geheime Rat, scherzte nie in ernsten Augenblicken: der verschrobene Aufbau der Nachricht war darum auch verteufelt logisch, denn er war es selbst, der seinen Sohn benachrichtigte, wenn er in Erwartung seines Endes den Wortlaut niederschrieb oder jemand in die Feder sagte und die Geltung der so entstehenden Urkunde für den Augenblick nach seinem letzten Atemzug bestimmte; ja man konnte den Tatbestand vielleicht gar nicht richtiger ausdrücken, und doch flatterte von diesem Vorgang, worin die Gegenwart eine Zukunft zu beherrschen versuchte, die sie nicht mehr zu erleben vermochte, ein unheimlicher Leichenhauch zornig verwesten Willens zurück!

Musil, MoE Kap. II.1 [1932]

Erst als der Rausch schon etwas ausgetobt war, und Anders die Post aufnahm, um nach dieser Auskühlung erst recht seine Magie zu fühlen, bemerkte er obenauf ein Telegramm, das er in seiner merkwürdigen Abfassung anfangs kaum verstehen konnte. Dieses Telegramm lautete: »Setze Dich von meinem Ableben in Kenntnis. Weiland Dein Vater.« – Anders mußte unwillkürlich lächeln; er konnte sich vorstellen, welche Wichtigkeit es für seinen Vater bedeutet haben mochte, ob es logisch und rechtlich richtiger sei, wenn man noch selbst den Text aufgesetzt hat, »Dein Vater« zu unterschreiben oder »weiland Dein Vater«, und ob weiland sein Vater es ihm mitteilen ließ oder selbst mitteilte, sofern es sich doch bloß um die Auswirkung eines einmal gesetzten – dann allerdings noch vor dem Weiland-Zustand gesetzten – Willensaktes handelte.

Musil, Der Erlöser, Kap. 1 [~ 1923]

Noch ein Telegramm:

Drei Dinge passierten am Samstag, dem Tag nach der Verbrechenswelle. Erstens ließ mich die First National Bank als Gefallen dem Swankerton Police Department gegenüber mein Bankschließfach besichtigen. Vielleicht hatten sie das Gefühl, es könnte ihnen dabei helfen, ihre gestohlenen 50.000 $ zurückzubekommen. Tat es nicht.
Die zweite Sache passierte, als ich die Bank verlassen hatte. Ich rief im Polizeihauptquartier eine private Nummer an und sagte: »Ich bin fertig.« Fünf Minuten später reichte der Polizeichef von Swankerton seine Kündigung ein.
Die dritte Sache war ein Telegramm, das ich aus New York bekam. Es lautete: »Ich bin gestern Abend von eigener Hand gestorben. Dachte nur, du würdest das wissen wollen. Grüße. Gorman.« Das Postskriptum lautete: »Mr. Smalldane hat Anweisungen hinterlassen und auf der exakten Formulierung dieses Telegramms bestanden.« Das Postskriptum war unterzeichnet von Gorman Smalldane Associates, Inc., und ich fragte mich, wer die wohl sein mochten.

Ross Thomas: Die Narren sind auf unserer Seite. Übers. v. Gisbert Hafer u. Julian Hafer. Berlin: Alexander Vlg. 2024, Kap. 44 [The Fools in Town Are on Our Side, 1970]