Kaisers Gaskraftwerke

Aus einer Theaterkritik Robert Musils (in der Dt. Allgem. Zeitung, 26.3.1924). Es geht hier/mir nicht allein um Musil, nicht so sehr um [Friedrich Karl] Georg Kaiser, dessen Stücke Gas I und Gas II damals, gar die Dramen des Expressionismus (das alles spielt gewiss mit seine Rolle); es geht um die Worte, Sentenzen der Kritik von Stücken, die akkurat mit »Gas« ›ausgefackelt‹ (i.e. betitelt) nach 1918 entstanden (abgesehen davon, dass hier Mechanismen des Rauf- und Runterschreibens reflektiert und beschrieben werden, die präzise heutiges »Journalismus«-Handwerk meinen können):

Zu den Nachkriegsstücken, welche von der Erinnerung an Überstandenes leben und ihren Aufstieg teilweise einem Abstieg danken, rechne ich auch Kaisers Gas I und II [Uraufführung 1918 bzw. 1920; Anm.], die in einer Aufführung des Wiener Raimund-Theaters, um einen Akt von I gestrichen und zusammengezogen, lebhaft ihr Publikum ergriffen. Man kennt den Inhalt: Soziales Zukunftsbild, völlig vertechnikte Erde, symbolisiert in einem Riesenbetrieb, der das Universalkraftgas der Welt, »Gas«, erzeugt. Die syndikalisierten Arbeiter nun erst recht Sklaven der Maschine, die für sie Geld heckt. Aber der Dämon Maschine hat die metaphysische Güte, sich nicht länger an die Naturgesetze zu halten, »Gas« explodiert, die Menschheit ist befreit. Ein Heiland ersteht ihr, der sie zur Kleinsiedlungsbewegung überreden will, doch nun folgt sie wieder nicht ihm, sondern dem Ingenieur, der sie »von Explosion zu Explosion« heroisch weiter industrialisieren wird. Krieg kommt, Allmacht des Staats, Rasen der Maschinen, Niederlage, Fron unter fremden Kapitalisten. Neuerlich ist damit die Situation für eine Erlösung – durch Entsagung zur Freiheit! – gegeben, aber auf der andern Seite steht auch schon wieder ein Ingenieurdämon mit der Erfindung eines neuen Gases in der Hand, das siegreichen Freiheitskrieg verheißt. Die Entscheidung der Masse wendet sich zum Krieg; da sprengt der Heiland II. die Welt in die Luft. So ungefähr ist es.
Ich weiß, was man daran liebt. Pathos von heute, puffendes Maschinenpathos; aber ich kann mir nicht helfen, ich bin früher selbst an mancher Maschine gestanden, und das Pathos von Gas wirkt auf mich wie das aufgeregte Piff-paff-puff eines Knabenspiels. Prophetie? Anbeter flüstern von der Ruhrbesetzung! Aber vielleicht lief diese Prophetie den Ereignissen voraus, den Stimmen der Literatur kam sie nach, die seit zwanzig Jahren die Zeit angeklagt haben, daß sie von der Mechanik versklavt werde. Geist in geballte Wirklichkeit gepreßt? Wirklichkeit siehe Maschinenpathos, Geist siehe Prophetie; die Gedrängtheit ist die lang schon zu Formeln gewordener Worte, es findet sich nicht ein Gedanke in diesem Stück, der nicht aus der geistigen Konkursmasse unserer Literatur stammte. 

Robert Musil: Stücke aus der Zeit. Wiener dramatisches Allerlei. In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 10: In Zeitungen und Zeitschriften 1922–1924. Salzburg & Wien: Jung und Jung 2020, S. 398–404, hier S. 402f.