Plötzlich spürte ich, wie in meinem Hirn eine Tatsache, die sich dort als Erinnerung festgesetzt hatte, ihren Platz verließ und ihn einer anderen abtrat. Die Depesche, die ich letzthin erhalten und von der ich geglaubt hatte, sie sei von Albertine, diese Depesche stammte von Gilberte. Da die etwas gekünstelte Originalität der Schrift Gilbertes vor allem darin bestand, daß, wenn sie eine Zeile schrieb, die T-Striche so weit in die darüberliegende Zeile gerieten, daß einzelne Wörter darin unterstrichen schienen, und die i-Punkte in solcher Höhe schwebten, daß sie die Sätze, die darüberstanden, willkürlich abteilten, umgekehrt aber die Schwänze und Arabesken der Wörter bis in die darunterliegende Zeile hinabführten, war es ganz natürlich, daß der Angestellte des Telegraphenbüros die Schlingen der s oder y in der oberen Zeile als ein »ine« gelesen hatte, das sich dem Namen Gilberte anschloß. Der Punkt auf dem i von Gilberte hatte sich mit der Wirkung einer Fermate nach weiter oben verirrt. Was das G von Gilberte betraf, so sah es aus wie ein deutsches A. Daß außerdem noch zwei oder drei Wörter falsch gelesen oder miteinander verwechselt waren (einige waren mir im übrigen unverständlich geblieben), genügte, um die Einzelheiten meines Irrtums zu erklären, obwohl es dessen nicht einmal bedurft hätte. Wie viele Buchstaben liest schon eine zerstreute oder vor allem voreingenommene Person im einzelnen in einem Wort, wenn sie von der Idee ausgeht, daß der Brief aus einer bestimmten Feder stammt? Wie viele Wörter in einem Satz? Man errät vieles beim Lesen oder erfindet schöpferisch etwas hinzu; alles übrige ergibt sich aus einem Eingangsirrtum; die weiteren, die daraus folgen (und das gilt nicht nur für die Lektüre von Briefen und Telegrammen oder überhaupt nur für die Lektüre), mögen denjenigen, denen der Ausgangspunkt nicht bekannt ist, noch so merkwürdig scheinen, sie sind gleichwohl ganz natürlich. Ein Gutteil von dem, was wir – und das trifft bis in die letzten Folgerungen zu – mit ebensoviel Eigensinn wie Treuherzigkeit glauben, rührt von einer ersten Täuschung über die Voraussetzungen her.
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 6: Die Flüchtige. Aus d. Franz. übers. v. Eva Rechel-Mertens; revid. v. Luzius Keller u. Sibylla Laemmel. Hg. v. Luzius Keller. Frankfurt/M. Suhrkamp 2011, S. 357f.