Literatur ist Verwaltungstechnologie

Heinrich v. Bonaparte

Kluge: Was ist der Nutzen von Literatur?
Vogl: Literatur ist ein elementares Experiment über die Irrfahrt. Literatur ist eine entscheidende Form der intellektuellen Fortbewegung. Es gibt offenbar eine Ethologie, eine Verhaltenslehre, in der das Verhältnis zum Text immer ein Verhältnis zum Raum und zur Zeit darstellt. Literatur ist ein Alternativverwalten der Welt. Literatur ist eine Verwaltungstechnologie, die experimentell Welt herstellt, organisiert und desorganisiert. Das ist die kleine, auch listige Freiheit von literarischen Systemen, von literarischen Kartierungen, dass sie, ausgerüstet mit Verwaltungstechnologien, Welten herstellen, organisieren, kohärent machen und gleichzeitig die Sollbruchstellen aufzeigen. Literatur ist in dieser Perspektive immer ein Umgang mit ungeborenen oder halbgeborenen Welten. Sie hat ihre eigene Ontologie, verhält sich zur Welt wie ein Probierverhalten, aber auch wie eine Gebärmaschine. Es werden Bedingungen formuliert, unter denen Welten entstehen oder auch nicht. Es gibt Romane, deren Fazit etwa darin liegen könnte, dass die vorgeführte Welt nicht die Konsistenz oder die Kohärenz einer möglichen, einer möglicherweise geborenen Welt einnehmen kann. Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil wäre ein Beispiel dafür. Der Unterschied zu Kleist bestünde darin, dass er das Schicksal von Figuren vorführt, in die das gesamte Gewicht der Geschichte hineinstürzt. Es sind Figuren, die auch von der physikalischen Last der Geschichte betroffen und bewegt werden. Nimmt man Sigmund Freud, dann kehrt sich das Verhältnis um. Bei ihm fallen aus den analysierten Figuren, aus den Erzählungen von geschlossenen Innenräumen des modernen Subjekts die Geschichten heraus. Es gibt bei Kleist bereits, auch in den Dramenfiguren, Formen des unmittelbar Unbewussten, Leute, die in Trance handeln wie der Prinz von Homburg beispielsweise, somnambule Menschen. Das sind Personen, die Geschichte erleben und historisch handeln, ohne zu wissen, was sie tun. Dieser Strang taucht auch bei Freud auf und bedeutet nicht zuletzt, dass im Innersten der erlebenden Subjekte etwas konsequent Äußerliches geschieht. Es handelt sich um eine Macht der Geschichte, der sie nicht entgehen können und die im Intimsten die Herrschaft des »man« bezeichnet, also des Allgemeinen, des Anonymen, eines nicht mehr auf Personen reduzierbaren historischen Geschehens. Es gibt Individuen, durch die zieht die Geschichte hindurch wie durch ein offenes Bauwerk, das keine Fenster hat, das wie eine Ruine da steht. Solche Figuren werden bei Kleist vorgeführt.

Einstürzende Wirklichkeiten. Joseph Vogl über Heinrich von Kleist »Das Erdbeben von Chili« [gesendet 13.03.2005]. In: Alexander Kluge: Heinrich von Kleist – Ein Gewitterleben. Göttingen: Wallstein 2023, S. 71–88, hier S. 87f.