Monarchie – Bürokratie

Robert Musils sog. »Tagebücher« sind in erster Linie Notizhefte mit zahlreichen diaristischen Auszeichnungen (darin Kafkas Heften nicht unähnlich).* Während er noch Arbeiten im öffentlichen Dienst diverser Zentralstellen/Ministerien ausübt, arbeitet er an Vorstufen des Mann ohne Eigenschaften, die später als »Der Spion« zusammengefasst werden. Dazu gehören auch die folgenden Abschnitte zur Bürokratie:

Monarchie – Bürokratie.
14 [mit Bleistift; Anm.]

Der Mangel an Initiative und eigener Meinung innerhalb einer monarchistischen Bürokratie. Tun, was man für recht hält, ist eine Anmaßung. Dieses Recht hat nur der Monarch.
Auszug aus Erich v. Kahler: Die charakteristische Vorstellung, die man von Österreich vor dem Kriege hatte, ist das Fehlen einer ausgesprochenen Vorstellung. Kein Geschmack, kein Begriff, kein Schlagwort verband sich damit. »Eine Diplomatie, welche subtil und umständlich in lange bewährten und geschätzten Formen mehr einen Bestand verteidigte als .. eine Notwendigkeit förderte.« »Eine Regierung regierte ein Land, dessen sie sich kaum mehr entsann.« »Die Staatskuppel, Zeit- und Weltluft versperrend«, lag über allen selbständigen Bestrebungen. »Kein Volk, keine Idee, keine .. Solidarität des nach vorn gewandten Triebs und der natürlichen Tätigkeit« Vgl 114 [mit Bleistift; Anm.]

Robert Musil, Nachlass; Heft 8 [März bis Herbst 1920], S. 14

Bürokratie. [mit Tinte und Blaustift; Anm.]
28 [mit Bleistift; Anm.]

Wenn der Chef einer Unterstelle nicht bei allem einigermaßen Interessantem um »Genehmigung« ansucht, so empfindet die vorgesetzte Stelle es als Beleidigung. Diese Stelle besteht zum größten Teil aus Beamten, die niedriger im Rang sind als der Malefiziant. In Falle Kokstein hat man das »unbotmäßig« genannt. Es scheint charakteristisch zu sein, daß die »Konferenz der Sektionschefs« schon bei seiner Bestallung gegen ihn war; Sektionschef ist der hohe Beamte, der nichts im eigenen Namen tun darf. Seine Macht ist weit über der eines Finanzlandesdirektors, aber er kann sie nicht nach außen tragen. Ähnliches Verhältnis wie zwischen dem Chef der Op Kanzlei [i.e. Operations-Kanzlei; Anm.] und einem I D. [i.e. Infanterie-Division; Anm.] – oder Kps Kmdten [Korps-Kommandanten; Anm.] =Ressentiment. Nur durch eine große Welle von Gemeinsamkeit wegzuspülen, durch eine Ideologie. Hier setzt hängt die Sache mit der Monarchie zusammen. (Siehe Heft 8. [s. oben, Anm.])
Grundsätzlich das tun, was man für recht hält, nicht der Oberbehörde, sondern der Gesamtheit verantwortlich zu sein – ist nach monarchischer Ideologie eine Anmaßung. Kokstein sagt richtig: »Das Gefühl, daß ich die formale Autorität bekämpfe, von der unsre Beamtenhierarchie ihr Dasein fristet, ist der Urgrund des gegen mich geführten Kampfes.«Koksteins Grundsätze, über die er gefallen ist: Für das Volk arbeiten und nicht für den Beifall der Vorgesetzten. – Die Persönlichkeit muß vom Vorgesetzten geweckt werden und im Dienst möglichst freien Spielraum haben. – Der Beamte hat zwischen Wichtigem und weniger Wichtigem zu unterscheiden. Nicht der Akt ist die Hauptsache, sondern es ist »gegenständlich« zu arbeiten. Er selbst hat fast keinen Akt mehr

Robert Musil, Nachlass; Heft 9 [Frühjahr 1919 bis Dezember 1920], S. 28

27 |mit Bleistift; Anm.]

sich zur Entscheidung geben lassen. – Bei der Finanzbezirksdirektion, die er vorher leitete, hat er die Exh. [Exhibitionisten; Anm.] Zahl von 100 000 auf 25 000 gebracht. – Die formale Rechtskraft darf kein Unrecht decken. Ein Unrecht muß beseitigt werden, auch wenn der Rekurstermin schon abgelaufen ist. – Einmal erlassene Vorschriften werden nie wieder geprüft, man muß sie kennen. Kokstein hat seinen Leuten gepredigt: eine Vorschrift, die einige Jahre alt ist, muß ein tüchtiger Beamter vergessen. – Es gibt keine mechanische Reduktion des Personals, das ist vergeblich, es gibt nur organischen Abbau durch Verringerung der Aktenzahl und Beseitigung abgestorbener Vorschriften. Er hat die Zahl seiner Beamten in 10 Jahren von 4000 auf ca 2700 gebracht. – Man darf die Leistung nicht nach den gemachten Dienststunden beurteilen. Der Beamte muß sich weiter bilden und im Leben bewegen. Seine Unparteilichkeit darf auch nicht durch künstliche politische Neutralisierung angestrebt werden. –
Das meiste von dem werden die künftigen Bürokraten gar nicht bestreiten, genauso wie die Christlichsozialen für sich in Anspruch nehmen, den Begriff der modernen Schule schon durchgeführt zu haben.

Robert Musil, Nachlass; Heft 9, S. 27

* Die Sammlung der Tagebuch-Hefte Musils enthält zahl­rei­che Rückverweise auf früher getätigte Notate, es sind Erinnerungshefte und durchaus sind auch auch Eintragungen nach dem Vorbild eines Journals festzustellen. Hinzu kommt bei ihm jedoch wesentlich, dass bis zuletzt zahl­reiche Zitate, eine Vielzahl an Büchern und (fremden wie eigenen) Texten angeführt werden, woran sich zu­meist eine Reflexion schließt bzw. eine Schaffung von Kontext, der nicht selten mit Siglen und Querverweisen versehen wird. Anders gesagt: Vieles an Fremdem wird einge­bun­den und mit Eigenem zu einem Bezugsgeflecht verknüpft. Eine Exaktheit Musils ist somit weniger in der Tagebuchform auszumachen, als vielmehr in dem ständigen Bestreben einer Präzi­sierung, die durch diverse Signale im Text verdeutlicht wird: mathematische Angaben und Über­le­gungen, inten­siver Zahlengebrauch, expressis verbis Verweis auf Exaktheit, deutlich stili­sierte Beobach­tun­gen mit Reflexion, Suche nach und Präsentation von Definitionen etc. Klaus Amann hat die verschiedenen Genres in Musils Tage­büchern angedeutet: »Sie sind Materialsammlung, Archiv, Notizbuch, Traumprotokoll, Geheim­schrift, Selbst­an­klage und Verteidigungsschrift, Kuriositätensammlung, Planungs­instru­ment, Experi­mentier­feld, Labo­ratorium, Krücke und Klagemauer. Sie stellen biographische Noti­zen, Excerpte, Formu­lie­rungs­ent­würfe, Einfälle, Redewendungen, Arbeits- und Werk­kom­men­tare, Lek­tü­­renotizen, Zeitkritik, philo­sophische Reflexionen, politische Analysen, Beo­bach­tun­gen, Dia­loge, Erin­nerungen, Selbst­ana­ly­sen und Aphorismen nebeneinander.« (Amann, Klaus: Robert Musils Tagebücher. In: kolik 6/1999, S. 29–36, hier S. 31f.)