Protokoll und administrativer Pakt

[Bemerkung vorab: Eine Einleitung zur Konferenz Das Protokoll (Wien, 14.–17.10.2021, wenige Tage nach einem Wechsel an der österreichischen Regierungsspitze); eine lose Folge von Gedanken am Schreibtisch.]

Was aber ist ein »Protokoll«? Die etymologische Frage scheint geklärt; von Adelung über Duden und Grimm bis KlugeWiktionary und Zedlerherrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass der Begriff ›Protokoll‹ vom mittellateinischen protocollum und dieses vom mittelgriechischen protókollon herrührt. Vom vorgeleimten Blatt mit seinem Echtheitszertifikat für ägyptische Papyri über kurze Inhaltsangaben bis etwa zu einer Regelsammlung, die zuerst der Rolle und später dem Akt in Form eines Votums vorangestellt war (etwa im französischen Sprachgebrauch) entwickelten sich Nutzung und Zuschreibungen: Nachweise und Vorgaben, jedenfalls Beanspruchungen von Wahrheit und Deutungsmacht. »Das alte Protokoll bestätigte die Echtheit des kaiserlichen Beschreibstoffes, das neue beglaubigt den Inhalt des geschriebenen Textes.« [☞ 1]

Vielleicht könnte man auch erst im Spanien des 15. und 16. Jahrhunderts beginn, als mit der Reconquista und ein paar transkontinentaler Segeltörns drei bis dahin in dieser Form nicht gekannte Handlungsfelder eröffnet und stabilisiert werden: 
1. der Tätigkeitsbereich der Casa de la Contratación in Sevilla, wie von Bernhard Siegert – dafür von Klaus Theweleit hymnisch abgefeiert –, Wolfgang Schäffner und anderen bereits einer spannenden Aufarbeitung unterzogen;
2. die Verhörtechniken, Urteilsbegründungen und Strategien zur Gerechtigkeitsverteilung von Exkommunikation, Folter und Scheiterhaufen durch die Inquisition;
3. die Abschaffung des Reisekönigtums und stattdessen Einrichtung eines ständigen Regierungssitzes einschließlich Verwaltung und Archivierung einerseits – und der Ausbau des Hofzeremoniells einschließlich Unterweisungsschriften, wie man sich in dessen Rahmen zu verhalten habe, andererseits.

Die drei Bereiche sind von Beginn an – teils ursächlich – miteinander verschaltet, aus ihren je eigenen Kulturtechniken und deren Zusammenspiel heraus entsteht jedoch über ein paar Zeitläufte hinweg ein Verwaltungsapparat, wie er bis dahin nicht existierte, umfängliche Vorbildwirkung inklusive – und für die österreichische Geschichte aufgrund familiärer Beziehungen nachweislich von einiger Bedeutung. La Famigliaund Nachweise – ich komme gleich darauf zurück. (Es wäre bspw. eine Forschungsarbeit über derartige Einflussnahmen in der langen Geschichte der Machtwechsel in den beiden Sizilien spannend, da dort der Verwaltungsapparat bei allen spanischen und österreichischen Machtübernahmen weitgehend unangetastet blieb, jedoch stets zu adaptierende Aufgaben bekam, die er aus s/einem je spezifisch zu veränderndem System heraus zu bewältigen hatte.)

Im Vorfeld zur Tagung hatten Niels Werber, Burkhardt Wolf und ich die drei größeren Bedeutungskomplexe von »Protokoll« dahingehend zusammenzufassen versucht, dass wir Gesprächs- oder Verlaufsprotokolle, diplomatische und technische Protokolle [☞ 2] unterschieden. Protokolle stellen jedenfalls zumeist etwas sicher: wie zu handeln gewesen sein wird oder was zu verhandeln war. Mitunter scheint es, dass Protokolle formalisierte Antworten auf Entscheidungsprobleme darstellen.

Dabei wird man lange suchen müssen, bis man in unseren gegenwärtigen Verwaltungseinrichtungen und ihren Ausbildungsstätten konkrete Vorgaben dafür findet, wie ein schriftliches Protokoll auszusehen hat; diplomatische Protokolle fußen wiederum auf diversen ausgehandelten Grundsätzen und lassen sich erst abseits derselben differenzieren. Und technische Protokolle, u.a. neben den Aufschreibe- oder a posteriori-Protokollen und den diplomatischen oder a priori-Protokollen für die Unbestimmtheit eines Jetzt stehend, stehen wesentlich für die Technisierung von Interaktion ein. 

Das mußt du aber deinem Sekretär sagen, wegen dem Protokoll, damit gleich nichts davon hineinkommt.

Musil, MoE – GA 6 (2018), S. 599f.

Das alles aber sollte und wird sich in diesen drei Tagen hinterfragen, jedenfalls präzisieren, womöglich erschüttern lassen. Apropos Erschütterung:In Österreich sind seit vielen Monaten von Medien und Politik so genannte »Chat-Protokolle« in aller Munde. Screenshots elektronischer Kommunikationsketten zirkulieren als Wahrheitsbeweise, [☞ 3] politische Karrieren enden und die Regierungsspitze folgt einschließlich ihrer Berater dem online-Verkaufsportal »Kaufhaus Österreich« in den Orkus. Dass es ausgerechnet technisch umgesetzte administrative Kulturtechniken wie Protokollieren, Lösung von Entscheidungsproblemen, Arbeitsnachweise, Verordnungen, Speichern, Anlegen von Sicherheitskopien, Zugriffe auf Budgets etc. waren, die nun in Form von Messenger-Diensten, Smartphone-Speichern, Time Capsules und insgesamt Back-up-Services eine wesentliche Rolle spielen, dass diese ausgerechnet von einer Personengruppe angewandt wurden, die Verwaltung und Bürokratie als Feindbild deklariert hat, entbehrt nicht der Komik; denn sie hat die Mittel ihres angeblich abgehalfterten Gegners nur unzureichend reflektiert und kommt nun akkurat darüber zu Fall kommt. Zu danken bleibt dieser Personengruppe über kurz oder lang jedoch dafür, dass sie etwas deutlich machte: die alten Verfahrensweisen und Verwaltungstechniken hatten nicht einfach immer schon ›irgendwas‹ mit Medien zu tun, sondern ihre Eigendynamiken sind sehr unmittelbar auch unter den Oberflächen der Smartphones und Tablets wirkmächtig. Der Einfall, von globalen Privatunternehmen geführte Social Media-Dienste für eine Verschwörung zu verwenden, sich dabei aber ausreichend unter einander zu wähnen und vermittels einschlägiger Dienste für die eigene Gruppe sowohl Arkanwissen als auch eine spezifische Zeitordnung der Unmittelbarkeit etablieren zu können, erwies sich als minder schlau. Die Protokolle und die mit diesen verbundenen Algorithmen waren mächtiger als gedacht. Dieser – auch – Schreibform entkommt man nicht, Vernehmungs- und Gerichtsverhandlungsprotokolle werden folgen. (Das Protokoll siegelt den Pakt mit seiner Signatur von ›Wahrheit‹ – und derart berichtet es vom Geheimnis des Kanzlers, das genau durch diese Verlaufsform als solches gehandelt wird; auch wenn das alles seit Jahren bekannt war: aber weshalb sollten die österreichischen Zeitungsredaktionen Protokolle über ihre eingegangenen Geschäftsbeziehungen offenlegen, als wären sie Abteilungen der österreichischen Zentralstellen oder gar Geheimdienste mit Berichtspflichten?)

Der Befund ist natürlich simpel; interessanter ist vielleicht folgende Frage: weshalb heißen die »Chat-Protokolle« so? (Es lässt sich ausschließen, dass mediale und politische Kräfte in ausreichender Zahl in der Lage wären, Aufschreibe-, Speicher-, Kommunikationsmedien, Protokoll-Mitschriften [☞ 4] und technische Protokolle differenziert zu dem fraglichen Begriff zusammenzubringen.) Als These möchte ich vorschlagen, dem Begriff »Protokoll«, gerade in einem Land, das zu Vereinspolizei, Sparverein und Generalversammlung ein durchwegs libidinöses Verhältnis pflegt (die Dialektik der Aufklärung ist das eine, in Österreich zumindest wäre die Dialektik der Bürokratie einige weitere Beobachtungen wert), eine ubiquitäre Zuschreibung von ›Wahrheit‹ zuzusprechen – gleichgültig, ob diese Zuschreibung an sich überhaupt erfolgen könnte. (Robert Musil hat in seinem Mann ohne Eigenschaften im Zusammenhang mit Äußerungen Moosbruggers oder Stumms – »Das mußt du aber deinem Sekretär sagen, wegen dem Protokoll, damit gleich nichts davon hineinkommt.« – viel von dem hereingenommen, was sich auch in diesem Oktober 2021 hinsichtlich eines weit verbreiteten Wissens um Protokolle zitieren ließe.)

Das ist aber keineswegs ausgemacht: viel zu viel an medialen Filtereffekten, an Deutungsmacht und Herrschaftsanspruch, formalen Grauzonen und Entscheidungsabnahme ist mit der Anwendung respektive Abfassung eines Protokolls verbunden, als dass solch einfache Dichotomien sich setzen ließen. Dessen ungeachtet steht – Unterwerfung gemäß Vorgabe ist ein traditioneller Ausbildungsberuf aus Österreich – die Form des Protokolls unter dem Generalverdacht, eine Wahrheit mitzuteilen. 

Es liegt nahe, so etwas wie einen administrativen Pakt zu vermuten und die Annahme dahingehend zu konkretisieren, dass gerade anhand der so heterogenen Formen der Protokolle sich nachzeichnen ließe, woher es rührt, dass die Zuschreibungen bestehen und warum das zudem bei allen so unterschiedlichen Erscheinungsweisen funktioniert. Sozusagen analog dem »autobiografischen Pakt«, der über entsprechende Textsorten zustandekommen soll und folgend dem, was man seit Philippe Lejeunes Arbeiten über die Autobiographie als Gattungsvertrag (oder -pakt) ansehen könnte, was wie bei Protokoll und Wahrheit wesentlich über Textauszeichnungen und -zuschreibungen geschieht, vereinbarte und kanonisierte Merkmale (etwas, dem de Man heftig widersprach). Dann müsste sich nicht allein die Frage stellen lassen können: was ist ein Protokoll und wie funktioniert es – sondern auch: wie analysiert und interpretiert man dieses? (Wenn man es darf.)

Das alles nicht ganz zu Unrecht, denn worauf ja mehrere Arbeiten in den letzten 20 Jahren zum Protokoll hingewiesen haben, ist, dass so wie es schier nicht möglich ist, vor dem Akt und seiner ins Recht gesetzten Bestandsaufnahmequalität einen außerhalb dessen, d.h. alternativ gültigen Anspruch durchzusetzen, es keine »Wahrheit« über das Geschehen gibt, das nicht ins Protokoll Eingang fand. Es gibt, wäre zuzuspitzen, den Überlegungen von Vismann et al. folgend, keine »Wahrheit« außerhalb des Protokolls, denn dieses beansprucht diese ja für sich, dazu in Kraft gesetzt und entsprechend ausgezeichnet.

Ein Protokoll ist stets eine Vorgabe: wie etwas auszuführen/umzusetzen sein wird (Zeremoniell/Diplomatie), was in diesem Nu des algorithmisch gesteuerten Ablaufs der Fall sei (Internet), was geschehen sein wird (Verlaufsprotokoll nach Abnahme/Bestätigung). Im Gegenzug korrespondiert das (seitens der Verwaltung/Administration/Bürokratie gegebene) Versprechen der Rechtssicherheit mit der einverlangten Verpflichtung zur Wahrheit der Angaben (Formular, Protokoll, die sich selbst bestätigenden Aktenläufe). Die Büger:innen bleiben sich selbst in der Pflicht, die sie an administrative Techniken und Pakte (wie die Dialektik der Bürokratie letztlich auch nichts anderes ist) übertragen. Quod non est in actis, non est in mundo. Man protokolliert, kollationiert und mundiert sich selbst.


☞ 1: Viktor Gardthausen: Protokoll. Text und Schrift. In: Zeitschrift des deutschen Vereins für Buchwesen und Schrifttum Nr. 9/10 (September/Oktober 1919), S. 97–107, hier S. 105. Das Protokoll rührt demzufolge von einer Bestimmung nach Form/Material/Zertifikat her und wandelt diese zu einer von Form/Inhalt/Nachweis um.

☞ 2: Für kryptographische Protokolle cf. u.a. Wätjen, Dietmar: Kyptographie. Grundlagen, Algorithmen, Protokolle. 3. aktual. u. erw. Aufl. Wiesbaden: Springer Vieweg 2018, insb. S. 177–214.

☞ 3: Dass Protokolle den Charakter einer Urkunde hätten, schreibt Vismann dem »Protokoll-Dispositiv« zu (Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt/M.: Fischer 2000, S. 85). Das ist auch der Punkt, an dem der Medieneinsatz entscheidend gewertet wird: »Die Funktion des Nachweises übernimmt die mit Akten verbundene integrale Medientechnik des Protokollierens.« (ibid.)

☞ 4: Protokoll: Mit-Schrift, Diktat, Techniken um zu protokollieren, das Aufzeichnen und Mitschreiben, Kurzschrift (Revolutionstechnik), Umschrift von Mitschrift in Aufzeichnung, Frage nach Erinnerung, Telefonprotokoll, Rede- und Versammlungsprotokoll, Abstimmung über Richtigkeit/Zulässigkeit des Protokolls, Rechtssicherheit, »qpn« [quosque abutere patientia nostra?]–Tironische Noten bzw. »die Tachygraphie zur Synchronisierung von Rede- und Schreibzeit« (Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt/M.: Fischer 2000, S. 87): cf. u.a. Kuchenbuch, David: Zum Diktieren in den Geisteswissenschaften 1880–1989. In: Merkur H. 869 (Oktober 2021), S. 27–40; Vismann, Cornelia: Action writing: Zur Mündlichkeit im Recht. In: Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Hg. v. Friedrich Kittler, Thomas Macho u. Sigrid Weigel. Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 133–152.