Endlichkeitsverwaltung

Anm. vorab: Der in der Folge in Ausschnitten zitierte Aufsatz Wolfgang Schäffners ist sinnvollerweise im Zusammenhang mit Bernhard Siegerts Arbeiten zur Casa de la Contratación [hier verlinkt im ebenfalls berücksichtigbaren Hinweis auf Theweleits HON] zu lesen. (Siegert selbst verweist mehrfach auf die Bedeutung von Schäffners Arbeit und Begleitung für die diesbezüglichen Themen.) Im Spanien Philipps II. kommt es zu einer Fiktion aus der Verwaltungswelt heraus, die erst später auf die Literatur eingeschränkt wird. Ein realpolitischer Souverän sagt und entscheidet nun, was Fakt und was Fiktion sei. Die Literatur gibt sich in der Folge als Kunstgriff (um sich von Verwaltung zu unterscheiden), behauptet aber zeitgleich einen Zugriff auf die Realität und ihre Gestaltung. (Das streift auch an den neuen sozialen Aufstiegsgefügen und deren Bedingungen: Man musste sein Leben auf Dienstleistungen ausrichten; daraus leiten sich Zwang und Bedürfnis ab, sich mit Schein und Anschein einer Person auszustatten, die namhaft gemacht werden kann.) Die Autorschaft dieser Zeit erscheint in mehrfacher Hinsicht als ein diskursiver Trickbetrug, hat jedoch wesentlich mit den neuen Verwaltungspraktiken zu tun. Aus der Gründung eines Imperiums, das im Zuge der unaufhaltsam scheinenden, fortschreitenden Expansion notwendigerweise wesentlich auf Papier gebaut war, entstand die Novela picaresca, der moderne Roman.

In der Folge zu Fakt/Fiktion bzw. Roman/Verwaltungsakt zit. nach:
Wolfgang Schäffner: Die Verwaltung der Endlichkeit. Zur Geburt des neuzeitlichen Romans in Spanien. In: Die Endlichkeit der Literatur. Hg. v. Eckart Goebel u. Martin v. Koppenfels. Berlin: Akademie 2002, S. 1–12.

Mit der 1561 erfolgten Festlegung von Madrid und dem Escorial als ständigem Regierungssitz wird die spanische Halbinsel zu einem verwaltungsraum, in dem der Schriftverkehr von Daten und Befehlen jede Unmittelbarkeit und Präsenz des Königs auflöst. Diese Verwaltungsmedien machen die Differenz zwischen Eigenem und Fremde, zwischen Wahrem und Falschem unsicher, die konstituieren ein Registrieren und Regieren aus der Ferne, und sie machen daher die Erfindung und Durchsetzung von Verfahren notwendig, die auf juridischer und medialer Basis Wahrheit erzeugen. […] Immer geht es darum, mit Zeichenoperationen geordnete symbolische Räume herzustellen, um dadurch endliche und wahre Aussagen zu garantieren. Die Schrift unterliegt im modernen Verwaltungsstaat des 16. Jahrhunderts neuen Effizienz- und Präzisionskriterien: Schreiben und Beschreibungen bedürfen in dem Maße, wie sie staatstragenden Charakter erhalten, neuer Wahrheitsspiele. [/] Daß im Rahmen dieser Verwaltungspraktiken sich so etwas wie die Geburt des neuzeitlichen Romans vollzieht, wird so lange nur als bloße Gegenreaktion beschreibbar, wie man die pícarosund verrückten Figuren wie Lazarillo oder Don Quijote als Exponenten eines karnevalesken Erfahrungstyps betrachtet und damit Literatur als Gegendiskurs bestimmt, der sich gerade durch seinen Unterschied zu den neuzeitlichen Schrift- und Verwaltungspraktiken herausbildet. […] Deshalb ist die Frage einer Genealogie des Romans vielmehr eine Frage nach seiner Herausbildung aus den Wissenspraktiken der frühen Neuzeit, die für die Entstehung einer Repräsentationsordnung im 17. und 18. Jahrhundert und deren spezifische Endlichkeit konstitutiven Charakter haben. [/] All die sogenannten Schelme und Wahnsinnigen, vom pregonero Lazarillo de Tormes über den contador Mateo Alemán, den Autor von Guzmán de Alfarache, bis zu den Beamten, die die Texte von Cervantes bevölkern, machen daher deutlich, daß Verwaltungsprobleme im Spiel sind, wenn es um die moderne Erscheinungsweise des Romans geht. [M]eine Skizze einer Geburt des Romans aus den Verfahren der Verwaltung [fokussiert] vor allem […] die Tatsache, daß diese Literatur […] »pretends not to be literature«. [☞ 1] Dieser Sachverhalt soll […] nicht als Spiel mit einem gesicherten fiktionalen Status dieser Texte verstanden werden, sondern als Effekt juridischer und medialer Verwaltungsstrategien, mit denen Wahrheit und Endlichkeit der Repräsentation erzeugt werden. [/] Das Auftauchen eines Ich-Erzählers in La vida de Lazarillo de Tormes (1554) gilt gemeinhin als ein zentrales Element für die Heraufkunft des modernen Romans. Doch es ist kein pícaro, der hier das Wort ergreift, sondern ein Beamter, der, wie Lazaro selbst schreibt, ein »oficio real«, ein »königliches Amt« innehat. Auch wenn es ein sehr niedriges Amt ist, so verkörpert Lazaro als pregonero jedoch nichts geringeres als die Stimme des Gesetzes. Denn alle Verordnungen, Urteile oder sonstigen Informationen für die Bürger eines Ortes haben im pregonero die letzte Relaisstelle ihres Verwaltungsweges[.]

Schäffner: Die Verwaltung der Endlichkeit, S. 1–3.

Es sind also nicht Erzähler oder »unreliable narrators« (W. Booth), die für die Genese des Romans aus den Verfahren der Verwaltung verantwortlich zeichnen, sondern mehr oder weniger unzuverlässige Schreiber. Dieser Unterschied ist fundamental: Ist er doch genau die Grenze, die bloßes Erzählen von Medientechniken trennt, die im 16. Jahrhundert zugleich eine historische Zäsur markieren, die für den modernen Roman entscheidend ist; die Zäsur einer Regierungskunst, die von Erzählen, theatralischen Inszenierungen und Augenschein übergeht zu einem Schriftverkehr, in dem Texte und deren Schreiber neue Formen der Autorisierung und Authentisierung benötigen. Und genau dies ist der Gegenstand von Texten wie Lazarillo de TormesGuzman de AlfaracheLa Pícara Justina und Don Quijote oder eben auch aller Verdaderas relaciones (Wahren Berichte) aus der Neuen Welt, des Padrón real, der Descripción general de las Indiaseines López de Velasco oder der Relaciones de los pueblos de España, deren Daten Philipp II. 1575 und 1578 durch Fragebögen erheben läßt. [/] Das Schreiber-Ich kann also als eine der wesentlichen Formen schriftlicher Zeugenschaft gleichermaßen zum Ort einer fundamentalen Unzuverlässigkeit werden; es bildet den privilegierten Ort von Wahrheit und Unwahrheit zugleich.

Schäffner: Die Verwaltung der Endlichkeit, S. 5.

Die zentrale Problemstellung im Rahmen der Verwaltung des spanischen Weltreichs im 16. Jahrhundert liegt, wie wir gesehen haben, darin, Verfahren zu entwickeln, die sicherstellen können, daß das, was Texte aussagen, auch tatsächlich der Fall ist. Es handelt sich also um die historischen Möglichkeitsbedingungen und die verwaltungstechnische Durchsetzung dessen, was Michel Foucault als die epistemische Ordnung der Repräsentation bezeichnet hat, die im 17. Jahrhundert das Ähnlichkeitsdenken der Renaissance ablöst. […] Es ist also kein Umschwung von Ideenhaushalten, sondern es sind Verwaltungsakte, die auf unzähligen Verordnungen, Ordenanzas und Datenerfassungen beruhen und die Zeichen mit einem Bezeichneten verknüpfen sollen.

Schäffner: Die Verwaltung der Endlichkeit, S. 8.

Don Quijotes Verfallenheit an Ritterromane basiert auf der Möglichkeitsbedingung der modernen Bürokratie: Ohne jede Augenzeugenschaft müssen Texte in der Lage sein, wahre Geschichten und Sachverhalte zu erzeugen, die in Absenz ihrer Schreiber oder ihrer beschriebenen Gegenstände allein mit dem schriftlichen Dokument bezeugt werden. Genau diese Funktion haben die Ritterromane für Don Quijote. Seine imitación ist eine Nachahmung von Handlungsregeln.

Schäffner: Die Verwaltung der Endlichkeit, S. 10.

Im Rahmen der symbolischen Operationen des Verwaltungsschrifttums und deren Repräsentationsstrategien lassen sich erfundene und wirkliche Zeichen, fiktional und nichtfiktionale Texte nur schwer voneinander unterscheiden. All die Strategien, die die Literatur von Lazarillo de Tormes bis Don Quijote aufwendet, um nicht als erfundene Literatur zu erscheinen, von den Zeugnissen und Dokumenten, die den Text umstellen, bis zum Wahnsinn Don Quijotes, deuten genau auf diesen entscheidenden Punkt der Repräsentation, in dem ›wahre‹ und ›falsche‹ Zeichen ununterscheidbar werden, auf einen Punkt also, der deutlich werden läßt, daß nur willkürliche Setzungen der Macht Wahrheitsspiele durchsetzen und damit Repräsentation ermöglichen können. In diesem Sinne sind die bürokratischen Anweisungen und Verordnungen darüber, wie Zeichen auf etwas verweisen sollen, Grundlage sowohl für eine neue Ordnung des Wahren und Falschen als auch für die Poetik des modernen Romans. Im Rahmen der verwaltungstechnischen Erzeugung von Repräsentation erhält Fiktion einen historisch neuen epistemischen Status, erhält der fiktive Charakter von Texten eine neue Funktion. Der neuzeitliche Roman hebt nicht an als bloß fiktionaler Text, der sich von allen nicht-fiktionalen absetzen würde, sondern als einer, der genauso wie jedes Schriftstück der Verwaltung dem Verdacht bloßer Erfindung unterliegt und gegen diesen Verdacht unterschiedliche Wahrheitsprozeduren in Gang setzt. Im Text selbst müssen also Beglaubigungsstrategien installiert werden, um den Text als das auszuweisen, was seinen schriftlichen Aussagen auch Repräsentationskraft verleiht. Nur so können Wörter und Dinge sich einander entsprechen, nur so kann die Verwaltung des Wissens als Verwaltung von Schrifttum endlich und damit regierbar werden. In dieser Verwaltung der Endlichkeit liegt sowohl der epistemische Ort des Romans innerhalb der Repräsentationsordnung begründet wie auch die fundamentale Endlichkeit, die den Roman als Teil einer neuzeitlichen europäischen Verwaltung bestimmbar macht, die mit endlichen Räumen, mit einer endlichen Anzahl von Algorithmen und Zeichen kalkuliert. Und darin hat vielleicht auch die Tatsache ihren Ursprung, daß der Roman bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht zur Dichtung zählen wird.

Schäffner: Die Verwaltung der Endlichkeit, S. 11f.

☞ 1] Roberto González Echevarriá: The Law of the Letter. Garcilasos’s Comentarios. In: Ders.: Myth and Archive. A Theory of Latin American Narrative. Cambridge 1990, S. 90.