Rennpferd

Lesefassung (entspr. Klagenfurter Ausgabe) von
Robert Musil: Das geniale Rennpferd
Nachlass-Mappe VI/1, Blätter 191–193
(Entstanden in den 20er Jahren, noch vor der konkreten Niederschrift dessen, was 1930 den ersten Band des MoE bilden wird, noch vor den Vorstufe der Kapitelgruppen 1928)

→ vgl. dazu MoE I.13: Ein geniales Rennpferd reift die Erkenntnis, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein, GA Bd. 1, S. 66–72.

→ vgl. im Sinne eines literarischen Bestiariums dazu Franz Kafka, Bucephalus – vgl. v.a. Kafkas »Ein Bericht für eine Akademie«, EA in der Zeitschrift Der Jude 1917, erneut 1920 im Band »Der Landarzt« (darin ebenfalls: »Bucephalus«).


Das geniale Rennpferd.
Sitzung der Unsterblichen. Nachdem alle sitzen, ist bis auf weiteres der Zugang zur Akademie gesperrt. 
Man sieht Denkerstirnen. Gesichter, in denen das Leben der Zeit pulst. 
Der Präsident: Unsterbliche! Ich bitte unser neues Mitglied, zu entschuldigen, daß wir uns nicht zu seiner Begrüßung erheben. Wir sind stolz, es nicht zu können. Die Akademie der Dichtkunst, welche anfangs – wie wir gerne einräumen – von der Öffentlichkeit mit einem beträchtlichen Mißtrauen, ja sogar mit Lächeln aufgenommen worden ist, hat sich durchgesetzt. Ein männlicher ruhiger Geist wie der meine hat nichts anderes erwarten können. In einem Zeitalter, wo die Wirtschaft eine so große Rolle spielt, und in einem verarmten Volk mit Idealen war die Verbindung der Wirtschaft und der unaustilgbaren Bedürfnisse des Humanismus eine Notwendigkeit. Der wirtschaftliche Vorteil, den sie gewährt, war auch das erste, was die Öffentlichkeit vom Wesen der Akademie begriffen hat. Wir sind uns nicht klar darüber, welche geistigen Aufgaben die Akademie erfüllen soll. Aber wir sind einig darin, daß es diese Aufgaben geben muß. Namentlich die erst später zu uns gekommenen Mitglieder haben das klar zum Ausdruck gebracht. Sie haben vor ihrer Ernennung behauptet, daß die Akademie eine vollkommen nutzlose, veraltete Einrichtung sei, welche persönlichen Beziehungen 

diene, von denen man sie mit Unrecht ausschließe; und das erste war, nachdem sie aufgenommen wurden, daß sie erklärten, sich diesem Rufe nicht verschließen zu können, weil es eine Pflicht sei, die Möglichkeiten auszunutzen, welche eine Akademie biete, um dem deutschen Geist zu dienen. Wir wollen also über die wirtschaftlichen Vorteile nicht gering denken; sie ziehen die Ideale nach sich, und wir hoffen alle, daß uns etwas einfallen wird, um der deutschen Dichtung sehr zu nützen. 
Der Andrang zur Akademie ist unter diesen Umständen naturgemäß sehr groß geworden. Wir haben uns nach dem künstlerischen Verdienst gerichtet, nach der Auflagenziffer, nach Zufällen, nach persönlichen Beziehungen, nach Staatsinteressen, nach Intrigen – aber alles das hat nicht genügt, um die Auslese des unsterblichen Teils der deutschen Dichtung in feste Grenzen einzuschließen. Es ist schlechterdings nicht zu sagen, was alles in die Akademie gehört, und noch weniger, wer darin sein möchte. Jeder. Wir haben darum vorläufig den Zuzug gesperrt, indem wir fest auf unseren Plätzen sitzen. Wir nehmen heute das letzte Mitglied auf. Seinen Verdiensten haben wie uns nach reiflicher Überlegung doch nicht verschließen können, und ich erteile somit unserem unsterblichen Freund, dem Rennpferd Blunderbuss das Wort zu seiner Antrittsrede. 

Blunderbuss: Unsterbliche!
Es mag 25 Jahre her sein, daß zum erstenmal ein Sportjournalist es wagte, das Wort niederzuschreiben: das geniale Rennpferd. Es galt meinem Vorfahren Ferror. Sie aber erst haben den Mut besessen, das Ergebnis der Zeitentwicklung zu ziehen und mich in den Kreis der gekrönten Geister der Nation aufzunehmen. Ich will versuchen, Ihnen meinen Dank dafür abzustatten, indem ich die Gründe ihres weitvorausblickenden und doch so zeitgemäßen Beschlusses ausspreche, der mich geehrt hat, mehr aber noch das Prinzip, dem wie alle dienen. 
1. Mitglieder der Akademie! Wenn Platon, von dessen Akademie die unsere den Namen empfangen hat, heute in einer Zeitungsredaktion vorspräche: was würde sich abspielen? … Und das alles würde ganz mit Recht geschehen. Das ist die Bedeutung der Popularität. Oder akademischer ausgedrückt, der Auflagenziffer. 
2. Aber Ihr Gewissen sagt Ihnen, daß die Courts-Mahler eine höhere Auflage hat als sie, daß die Lustige Witwe öfter gespielt worden ist als Madame Lescaut, ja sogar als der Wettlauf mit dem Schatten und der Schweiger. Wie ordnen Sie das in ihr Gewissen ein? Unsterbliche, Sie glauben nicht an die Magie des geschäftlichen Erfolgs, aber sie glauben bis zu einem gewissen Grad an diese Magie. Sie sind der Überzeugung, daß man ein schlechter Schriftsteller sein und eine große Auflage haben könne, aber Sie sind nicht überzeugt, daß man ein großer Schriftsteller sein und eine kleine Auflage haben könne. Das ist kein Widerspruch, wohl aber ein unklares Verhältnis. Erlauben Sie mir die

Hoffnung, mit meiner Erfahrung als Rennpferd Ihnen vielleicht dienen zu können. Ein großes Rennpferd ist nicht denkbar ohne einen großen Totoumsatz. Die Interessen von Züchter, Besitzer, Trainer, Reiter, Klub, Buchmachern, Wettern, Berichterstattern hängen an ihm. So ist es auch in der Literatur. Wir Tiere haben das Sprichwort: Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu. Sie sagen: Wo Könige bauen, haben die Kärrner zu tun: Es ist das gleiche. Der Mann, welcher seine 10 Mark in meinen Sieg oder in ihrem Buch anlegen will, wird eher kommen, wenn ihm der Betrieb um uns imponiert. Und nur für diesen Mann, das heißt, dafür, daß er sein Geld auf die beste Weise anlegt, arbeiten wir. 
Trotzdem, wenn wir auch den Erfolg um der Erziehung der Nation willen mit einer gewissen Umsicht pflegen, sind wir uns auch bewußt, daß es nicht allein auf den Erfolg ankommt. Noch nie sind zum Beispiel ein Florettfechter oder ein Trabrennpferd von den Sportjournalisten genial genannt worden, sondern mit tiefem Instinkt nur ein Galopp-Pferd, ein Boxer oder ein Fußballcrack. Es kommt da auf zwei Dinge an: man muß dem Volk ans Herz greifen und man muß eine gewisse Qualität des Edlen besitzen. 
3. Lassen Sie mich von der zweiten zuerst sprechen. Ich fühle mich da in der heiklen Lage, daß meine Worte Sie leicht verletzen könnten, weil ein edles Rennpferd derart einmütig bewundert und erkannt wird, wie es Ihnen im allgemeinen nicht beschieden ist. Ich muß da abermals vom Erfolg sprechen. Wir verdanken unseren Erfolg ja nicht der Bewunderung, sondern die Bewunderung dem Erfolg, während bei Ihnen dieses Verhältnis in einem gewissen freien Gleichgewicht und gegenseitiger Steigerung besteht. Lassen Sie uns über diesen Unterschied aber nicht den Idealismus der Nation vergessen. Die Nation will bewundern, ja sie muß. Es ist eine Nation, welche schon viele große Dichter besessen und bewundert hat. Diese Dichter sind tot und die Vokabeln der Bewunderung sind übrig geblieben. Sie wissen, eine Witwe heiratet leichter als ein Mädchen – die Funktion der Bewunderung verlangt gebieterisch nach einem neuen Inhalt. Abermals greife ich nach einem Beispiel aus dem Tierreich: Es kommt vor, daß man in der Brunftzeit männliche Frösche tot angeklammert an ein Stückchen Holz findet. So geht es den Kritikern, den Essayisten, den Biographen, den Zeitschilderern, den Bewunderern aller Art: sie klammern sich, um ihre Vokabeln und Sätze loszuwerden, an alles an, aber am liebsten natürlich an das, was schon feststeht. Die edle Qualität besteht darin, daß man die edlen Qualitäten erregt. 
4. Lassen Sie mich einen vergleichenden Blick auf die geistigen Qualitäten eines Dichtenden … eines rennenden Genies werfen.