Staatswissen

Alles in einem Archiv hat seinen Platz. Indes bleibt das, was an Ort und Stelle liegt, ohne weitere Hilfsmittel unauffindbar. Wo immer die Stehordner, Aktenbündel und Mappen lagern, in Regalen, Schränken oder Kästen, ohne Adresse sind sie so gut wie nicht vorhanden. Welcher Platz den Archivalien zugeordnet ist und ob es tatsächlich der richtige ist, erweist demnach erst die Registratur, jene integrale Schaltstelle zwischen Aktenstandort und Benutzer, ohne die ein Archiv – trotz aller Sichtbarkeit im Physischen – ein unzugänglicher, verborgener Ort bliebe. Die Registratur vergibt Adressen an das archivierte Material. Eine Sigle verbindet die Akten mit ihrem jeweiligen Stellplatz – so wie eine Hausnummer die Verbindung zu einem Hausbewohner schafft. Sie verknüpft die symbolische Ordnung des Zugangs mit dem fensterlosen Schattenreich des Archivs. Das Archiv hält sich ohne Schnittstelle zwischen sichtbaren Akten und unsichtbarer Ordnung also selbst geheim. Unter Umgehung der Registratur ist das archivierte Wissen des Staates auch ohne jede Zutrittsbeschränkung schlicht unzugänglich. […]
Es war schon immer ein Herrschertraum, alles mit einem Blick übersehen zu können, das gesamte Wissen des eigenen Landes, dessen Größe, die Einwohnerzahlen und andere Daten mehr. Gottfried Wilhelm Leibniz hatte seinem Landesherrn mit dem „Entwurff gewisser Staats-Tafeln“ diesen Traum 1680 zu erfüllen versucht. Und weil die alten Akten das Wissen des Staates nicht direkt abbilden, weil, umgekehrt ausgedrückt, jede Sammlung von Daten, auf die der Staat sich beziehen kann, nur unter der Bedingung zugänglich wird, dass die Physis der Speichermedien mit einer graphischen und/oder alphabetischen Ordnung korrespondiert, geht auch Leibniz diesen Umweg: den Umweg über die symbolische Ordnung. Sein Entwurf zur Repräsentation hoheitlicher Episteme empfiehlt eine diagrammatische Darstellung des Staatswissens in Tafeln und Tabellen. Auch in bildreichen, um nicht zu sagen: bildinflationären Zeiten bleibt es bei diesem Verfahren: der Übertragung von Bildern in eine Ordnung der Zeichen. Selbst dreidimensionale Visualisierungen in Computeranimationen, die einen Spaziergang durchs Archiv simulieren, belassen es darum nicht bei der puren Abbildung der Räumlichkeit. Sie codieren diese stets auch. Mit einem Mausklick öffnen sie windows, Fenster zur Ordnung des Symbolischen, welche den Nutzer dann in die lesbare Welt der Archivalien versetzen.

Cornelia Eismann: Was weiß der Staat noch? [2004] In: Dies.: Das Recht und seine Mittel. Ausgewählte Schriften. Hg. v. Markus Krajewski u. Fabian Steinhauer. Frankfurt/M.: Fischer 2012, S. 181–187, hier S. 181f.