Von Friedrich Kittler gibt es einen Vortrag bzw. Aufsatz mit dem Titel Die Nacht der Substanz [.pdf] (1989ff. mehrfach erschienen). Darüber habe ich einmal schon unter Bezugnahme auf eine Kultur des gedruckten, gebundenen Buches zu schreiben versucht (Erklärung / .pdf). Worauf nun – in der medientheoretisch spannenden Nacht der Landtreter wie Meerschäumer, die Herrn C. Schmitt nach Hause geschickt haben – sich fortgesetzt abstellen lässt, ist die Frage der Unsichtbarkeit, des Virtuellen; wie man damit (& mit ihren Fertigungszusammenhängen) umgeht. Hinzuweisen ist etwa auch auf den Text Rauschen des Meeres, Rauschen der Bildschirme (2012 publiziert) von Bernhard Siegert, der auch den Titel »Schiffe Versenken« tragen könnte und bei diaphanes online ist.
Kultur- wie Medienwissenschaften produzieren fortgesetzt (notwendigerweise!) Traktate über die Neue Unsicherheit, die ihrerseits in den Datenstrom eingespeist werden und in einem virtuellen Zettelkasten Verwendung finden. Kafka merkte schon an:
Rings um uns aber haben wir in der Verwirrung der Sinne oder in der Höchstempfindlichkeit der Sinne lauter Ungeheuer und ein je nach der Laune und Verwundung des Einzelnen entzückendes oder ermüdendes kaleidoskopisches Spiel.
Oh Nacht, oh Rauschen! »Thálatta! Thálatta!« Oder wie schon Buck Mulligan zu Stephen Dedalus meinte:
God! … Isn’t the sea what Algy calls it: a great sweet mother? The snotgreen sea. The scrotumtightening sea. Epi oinopa ponton. Ah, Dedalus, the Greeks! I must teach you. You must read them in the original. Thalatta! Thalatta! She is our great sweet mother. Come and look.
Das gesetzte, gedruckte, gebundene Buch ist gegenüber dem Meeresrauschen, einem Strandspaziergang mit Foucault, dem Schiffeversenken und dem Rauschen in den Kanälen mehr als ein bloßes Textmedium; es ist buchstäblich ein Scharnier, ohne dem nichts vom Apparat des Alphabets (Philosophie der Maschine) und der Maschine der Digitalisierung (eine Black Boxneuer Uneinsehbarkeit, die nicht zu verstehen gewesen sein wird). Ein zuverlässiges System zwischen zwei unzuverlässigen.
Geopfert und gekämpft wird nicht allein in Dublin, sondern gut zwei Jahrtausende zuvor auch in der Anabasis (›Hinaufmarsch‹, ›Anmarsch‹) Xenophons, die um 370 vor der Zeitrechnung den »Zug der Zehntausend« darstellt und noch wenig mit dem Buchdruck zu tun hatte – umso mehr mit Seefahrt, Mythos und dem Opfer im Sinne der gezielten Überlistung der Götter (nichts weniger als eine diesbezügliche Handlungsanweisung geben Adorno/Horkheimer 1944 im Exkurs »Odysseus oder Mythos und Aufklärung« in ihrer Dialektik der Aufklärung). Die entscheidende Schlacht war an sich erfolgreich, doch der Anführer Kyros und seine wichtigsten Offiziere starben; der somit gescheiterte Feld- wird zum Rückzug, bei dem es unter Führung Xenophons nur noch um das Überleben der verbliebenen Soldaten (griechische Söldner) geht. Immer wieder werden Opfer gebracht, um die Rettung zu gewährleisten und das Schwarze Meer bei Trapezunt zu erreichen – der bekannte Ruf Θάλαττα, θάλαττα (Thálatta! Thálatta! – »das Meer, das Meer!«, Xenophon, an. 4, 7, 24) kündet schließlich vom glücklichen Ausgang.
Der Mannschaft der Pequod wird das nicht vergönnt sein, nur der Leviathan und der Erzähler werden entkommen. Alle anderen gehen ins Buch ein, dem die Wortkunde des schwindsüchtigen Hilfsschulmeisterleins voransteht, dem sich die Exzerpte eines Unter-Unterbibliothekars anschließen. Ishmael wusste schon, weshalb er noch Stellen an seinem Körper nicht mit Tattoos bedeckte, sondern für ein künftiges Gedicht freihielt. Da wird auch das gewaltigste Opfer, die Hekatombe2 (das altgriechische hekatón steht für 100, eine Hekatombe umfasst 100 Rinder und zehntausend von diesen zu opfern ist numerisch besehen die Hekatombe der Hekatombe), nicht helfen:
It was a Saturday night, and such a Sabbath as followed! Ex officio professors of Sabbath breaking are all whalemen. The ivory Pequod was turned into what seemed a shamble; every sailor a butcher. You would have thought we were offering up ten thousand red oxen to the sea gods.
Melville, Moby-Dick, Chap. 67
»Come and look«, Meer und Buch, das Rauschen der Wellen und Seiten … und wie von ferne das der Serverfarmen. Das E-Book, dieser Lötklumpen mit elektrischem Strom, stellt die Umkehrung der altgriechischen Hekatomben-Logik dar, zehntausend blutigrote »Bücher« fasst es wohl. Opfern wir in hohem Bogen den Seegöttern – Thálatta!
(Update: 8. Juni 2020)