Die Schrift ist eine seltsame Angelegenheit. Man würde eigentlich vermuten, daß ihre Erfindung tiefgreifende Veränderungen im Leben der Menschheit hervorgerufen hat, und daß diese Veränderungen vor allem intellektueller Natur gewesen sind. Denn die Schrift vertausendfacht die Möglichkeit, Kenntnisse zu erwerben und zu bewahren. Man würde sie sich gern als eine Art künstliches Gedächtnis vorstellen, dessen Entwicklung eine bessere Kenntnis der Vergangenheit erlaubt und damit eine größere Fähigkeit, Gegenwart und Zukunft zu regeln und zu ordnen. Wenn man alle jene Kriterien ausschalten wollte, die je vorgeschlagen worden sind, um die Barbarei von der Kultur zu unterscheiden, so möchte man wenigstens das Kriterium der Schrift bewahren. Dann ständen auf der einen Seite jene Völker, welche die Schrift kennen und also in der Lage sein sollten, Kenntnisse zu erwerben und daher schneller und schneller einem selbst gesetzten Ziel entgegenzusteuern. Auf der anderen Seite befänden sich jene, die nur so viel von der Vergangenheit zu bewahren vermöchten, als dem individuellen Gedächtnis möglich ist; diese Völker wären die Gefangenen einer unsicher schwankenden Geschichte, einer Geschichte ohne Ursprung, ohne Plan und ohne dauerhaftes Bewußtsein.
Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Aus d. Französ. v. Suzanne Heintz. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1960, S. 358–362
Doch wird eine derartige Vorstellung durch nichts gerechtfertigt, was wir über die Schrift und über die Rolle wissen, die sie in der Entwicklung der Menschheit gespielt hat. […]
Wenn man die Erfindung der Schrift mit gewissen Merkmalen der Kultur in Beziehung bringen will, muß man in einer anderen Richtung suchen. Die einzige historische Erscheinung, die mit dem Aufkommen der Schrift zusammenfiel, ist die Gründung von Städten und Reichen, mit anderen Worten die Integration einer großen Zahl von Individuen in ein politisches System und ihre Aufteilung in Kasten und Klassen. Dies gilt jedenfalls für die Entwicklung, die sich damals von Ägypten bis China anbahnte. Es scheint somit, daß die Schrift zunächst der Ausbeutung des Menschen diente, bevor sie seinen Geist erleuchtete. Die Möglichkeit einer derartigen Ausbeutung, die Möglichkeit, Tausende von Menschen zusammenzutreiben und sie zu zwingen, die erschöpfendsten Arbeiten zu verrichten, läßt uns die Geburt der Architektur besser verstehen als die oben angedeutete direkte Beziehung zwischen ihr und der Schrift. Wenn meine Vermutung richtig ist, so bestand also die primäre Funktion der schriftlichen Mitteilung darin, die Versklavung zu erleichtern. Die Verwendung der Schrift zu uneigennützigen Zwecken, das heißt im Dienste intellektueller oder ästhetischer Bemühungen, stellte ein sekundäres Ergebnis dar, das sich außerdem nicht selten in ein Mittel verwandelte, um das primäre zu verstärken, zu rechtfertigen oder zu vertuschen. […]
Wenn die Schrift allein nicht genügt hat, um das Wissen zu festigen, so war sie vielleicht unentbehrlich, um die Herrschaft zu konsolidieren.
Anm. 1: Sätze aus obigem Zitat finden als Motto Verwendung (auch im amerikan. Original von 2017) in: James C. Scott: Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten. Aus d. Amerikan. v. Horst Brühmann. Berlin: Suhrkamp 2020.
Anm. 2: Ein Teil des obigen Zitats steht in Verwendung in Erhard Schüttpelz’ Aufsatz Was ist eine Akte?, cf. da. (Erhard Schüttpelz: Was ist eine Akte? In: NCCR Mediality Newsletter 7 (2012), S. 3–11) Worauf hingewiesen wird: dass präzise dieser Abschnitt mehrfach in der Literatur zu Bureau/Schrift/Akten/administrative Verarbeitungstechniken Aufnahme findet.