Montage und Mord

Ein Protokoll ist im amtlichen Gebrauch zuvorderst, seit jeher, ein zweifaches Instrument des Scheidens [☞ 1]: der Selektion und des Trennens zum einen [☞ 2], der Entscheidung über die Gültigkeit [☞ 3] und Operationalisierung andererseits. Protokolle markieren, als Ausweis und zugleich Medien einer Entscheidung, dass etwas wie dargestellt auch passiert sei bzw. zu passieren habe, eine Schwelle zu Rechtssicherheit und Gesetzmäßigkeit. Sie sind – nicht aus sich heraus, sondern durch eine Entscheidung an anderer Stelle – funktional gemachte Elemente eines Apparats; so wie Zahnräder eines Uhrwerks für sich genommen, und nicht im Verbund passgenau eingesetzt, operativ nutzlos sind, bedeuten auf sich gestellte ›Protokolle‹ in welcher Erscheinungsform auch immer nichts. Sie sind, genauer besehen, noch nicht einmal Protokolle. Erst wenn die Vor- und Mitschriften davon, wie es gewesen sein wird, zu solchen erklärt wurden, wenn eine Entscheidung über ihren Status als »Protokolle« sie zu solchen und für zulässig erklärt (d.h. diese Montage einer Mitschrift zur rechtsprinzipiellen und damit alleingültigen Rekonstruktion wurde), ist der Begriff tatsächlich auf sie anzuwenden und sind sie funktional. 

Hinsichtlich der Montage ein Verweis darauf, wie mit den Mitteln der Verwaltung ein Schriftstück, ein »Protokoll« entsteht, das nach erfolgter Zurichtung und Approbation nichts weniger als die Präambel zum Genozid darstellt (zur bürokratisch-statistischen Präzision des Nationalsozialismus vgl. etwa Aly und Roth 2000): Im Verlauf des Jerusalemer Prozesses Adolf Eichmanns finden sich mehrere interessante Aussagen hinsichtlich der Zurichtung des Protokolls der sog. »Wannsee-Konferenz« vom 20.1.1942.  

Eichmann gibt in der Befragung durch den Richter etwa zu Protokoll, was an Informellem (u.a. betraf das ihm zufolge die Diskussion der Effizienz unterschiedlicher Mordmethoden) bei der Konferenz am Wannsee von ihm wahrgenommen worden sei und nicht Eingang ins 15seitige Protokoll gefunden hätte – und wie Reinhard Heydrich sich dieses zurichtete: 

[I]ch hatte dafür zu sorgen, dass das alles aufgenommen wird. Und nachher hatte dann die Stenotypistin das abgeschrieben und Heydrich hatte dann bestimmt, was in das Protokoll hineinkommen soll und was nicht. Und dann hat er es noch gewissermaßen abgeschliffen und damit war es dann fertig, das Protokoll. […] Das Wesentliche wollte Heydrich in das Protokoll verankert wissen, weil er die Staatssekretäre annageln wollte und im Protokoll verhaften wollte. […] Das Wesentliche ist im Protokoll drin und das Unwesentliche, das hat er rausgelassen. Weil er sich hier gewissermaßen […] eine Art Rückversicherung geschaffen hat, indem er die Staatssekretäre einzeln festgenagelt hat. 

Eichmann-Prozess, 107. Sitzung, 24.7.1961

Bereits gegen Ende der 78. Sitzung hatte Eichmann [☞ 5] auf eine diesbezügliche Frage des Verteidigers ausgeführt: 

Das Protokoll gibt die wichtigsten Punkte sachlich, korrekt wieder, nur natürlich ist es kein wortgetreues Protokoll, weil die, sagen wir mal, gewisse Auswüchse, gewisser Jargon der vorgebracht wurde, in dienstliche Worte von mir zu kleiden waren und dieses Protokoll ist, glaube ich, drei oder gar vier Mal von Heydrich korrigiert worden, auf dem Dienstweg über Müller zurückgekommen. Es wurde seinen Wünschen entsprechend dann umgearbeitet, bis schließlich dieses hier vorliegende Protokoll entstand.

Eichmann-Prozess, 78. Sitzung, 23.6.1961

Das bedeutet nichts weniger, als dass das »Protokoll« solange zurechtgeschrieben und in den Rundlauf geschickt wurde, bis »das Wesentliche« sichergestellt war: dass möglichst alle Behörden und Leiter a priori in den zu industrialisierenden Massenmord an Europas Juden involviert waren und dies unumstößlich nachweisbar, abgelegt war (wobei speziell ist, dass einer der Monteure dieses Papiers, Reinhard Heydrich, sich auf dem Wege dieses Verfahrens, der Kräfte des Staatsapparats umfänglich versichernd, selbst die Approbation geben wird können). Und es bedeutet auch, dass »das Böse«, um mit Hannah Arendts einschlägiger Formulierung ihre Prozess-Niederschriften zu opponieren, keineswegs »banal« sich darstellt, sondern im Dienst des Massenmords sich reflektiert avancierter, effizienter Kulturtechniken der Verwaltung zu bedienen wusste. Nichts an diesem Verwaltungshandeln ist »banal« – und die Art und Weise der Generierung des »Protokolls« zur Konferenz am Wannsee erweist dies deutlich.


☞ 1: Zur (diagonalen) Kulturtechnik des »Scheidens« vgl. Steinhauer, Fabian (2015): Vom Scheiden. Geschichte und Theorie einer juristischen Kulturtechnik, Berlin: Duncker & Humblot.

☞ 2: Ein Protokoll ist stets Ausweis einer Selektion. Was jedoch nicht darin steht oder gestrichen wurde ist nach Abschluss des Prozesses allenfalls informell und auf anderen Kommunikationskanälen und anderen Speichersystem sich ›erhaltendes‹ Wissen.

☞ 3: Ein Protokoll wird nicht durch seine wie immer sich darstellende äußere Form, sondern durch seine Anerkennung – durch eine für legitim erklärte und mit diesem Anspruch durchkommenden Instanz – ein Protokoll.

☞ 4: Vgl. zum aktuellen Stand der Frage, wie der »Protokoll«-Status des »Wannsee-Protokolls« auch unter Berücksichtigung verwaltungstechnischer Abläufe einzuschätzen ist, u.a. Berwinkel, Holger: Zur Aktenkunde des Wannsee-Protokolls 2018a, 2018b – u.a. mit dem Befund: »An der Nahtstelle zwischen Politik und Verwaltung sinkt der Verschriftlichungsgrad epochenübergreifend ab«, 2018c.

☞ 5: Der Begriff vom »Schreibtischtäter« findet sich ansatzweise ausdifferenziert in Laak, Dirk van und Dirk Rose (2018; Hg.): Schreibtischtäter. Begriff – Geschichte – Typologie. Göttingen: Wallstein.