Schnitzlers Medien-T-Raum

Eine Lektüre von Arthur Schnitzlers Tagebüchern, sei es nur eines einzelnen TAGes, wird von einer Vielzahl an teils unterschiedlichsten Paradigmen bestimmt, etwa den Ordnungsprinzipien, den vier Phasen der Tagebuchführung, den Mittel einer ›Buchhaltung der Erinnerung‹, der Selbstbeobachtung, der Problematik autobiographischer Formen, den Zusammenhängen von Schnitzlers Lektüren fremder Tagebücher und Relektüren der eigenen; handeln ließe sich auch über »Literarizität« und Präzision, Archivierung und Erinnerungsspur, über die Frage, ob diese Tagebücher eher als ›archäologisches‹ oder ›medizinisch-klinisches Projekt‹ zu verstehen sind. Wesentlich strukturierende Elemente wie Epiphanie und Plötzlichkeit wären zu beachten, wie auch die Themen des Tagebuchs, die Fragen nach der Funktion von Reihen, Zahlen (Datum, TAGe und ›NullTAGe‹; ›Orgasmustabellen‹ etc.) und Modulen (etc./usw./…/–; Trias; Ausrufung; Kenn- und Schlüsselwörter; etc.), oder die nach den Sonderformen der Strukturierung. Darüber war schon zu schreiben oder soll a.a.O. nochmals referiert werden.

Peter Burke hat hinsichtlich Memoiren und verwandter Gattungen gewarnt, dass »solche Aufzeichnungen keine unschuldigen Erinnerungen enthalten, sondern eher Überredungsversuche sind, die aufgeschrieben wurden, um das Gedächtnis anderer zu modellieren.« Ähnliche Effekte nimmt Gérard Genette für das Tagebuch (und seine paratextuelle Funktion) an: » Selbst ohne Ausrichtung auf ein Publikum ist die intime Mitteilung des Tagebuchs […] intentional und überredend wie alle übrigen […] paratextuellen Mitteilungen. […] Die Annahme, daß diese Zurschaustellung immer in lauterer Absicht und ohne Verstellung geschieht, wäre nur auf dem Boden einer sehr naiven Vorstellung von Innenleben möglich.«

Was zu berücksichtigen bleibt, ist, dass stets die Frage nach Kontext, Konstruktion und Re-Konstruktiongestellt werden muss (zumindest in den wissenschaftlichen Aufsätzen), danach, wie so ein Notat gemacht ist, wie es funktioniert. Es geht also um das ›Aufschreibesystem‹ Tagebuch, um die Ordnungen des Diaristen. 

Dass Schnitzler gerne ins Panorama ging (weit über 200 mal notiert er einen Besuch) und leidenschaftlicher Kinogeher war (er sah konservativ geschätzt deutlich über 1.500 Filme unterschiedlichster Länge und Zurichtung), ist seit ein paar Jahrzehnten deutlicher geworden (meine eigene Dissertation u.a. dazu stammt aus 1999). Diese Faszination für optische Medien findet in der Gestaltung von Texten, vor allem in den Tagebüchern und literarischen Werken der 20er Jahre, ihren Niederschlag findet. Insbesondere wenn sich Schnitzler mit Traumsujets (z.B. Traumnovelle), Rauschzuständen oder Halluzinationen (z.B. Fräulein Else) befasst, tritt diese sorgfältige Oszillation immer merklicher in den gestalterischen Vordergrund, fließen andere Medien mit ein. 

Aus der Sicht der Tagebuchlektüre erscheint bemerkenswert, dass sich die Traum-Darstellungen jener Zeit, in denen Schnitzler noch kaum Panoramen besuchte und kein Kino von innen gesehen haben dürfte, diametral von denen der 10er Jahre bis zu seinem Tod unterscheiden. Ein Vergleich der Traum-Darstellungen zeigt, dass er die Traum-Räume anfangs mit Möglichkeiten des Theaters inszeniert. In späteren Jahrgängen werden hingegen fast ausschließlich die Möglichkeiten eines Filmsets in Anschlag gebracht. In den Traum-Darstellungen der 20er Jahre finden sich Flugerlebnisse, plötzliche Orts- und Perspektivenwechsel, abrupte ›Schnitte‹ (an Montagen erinnernd), blitzartiger Garderobentausch (von angezogen zu nackt, bis hin zu bizarrer Kostümierung), bemerkenswert sexuelle Phantasien, Raumdurchquerungen, deren Darstellung an Kamerafahrten erinnert – und Treffen mit Toten: Insgesamt kommt es immer wieder zur Aufhebung diversester Zeit- und Raumkontinuen, was sich auch im Text zeigt, der fragmentarisch wirkt, ›zerrissen‹.

Diese Beobachtung lässt sich (mit gewissen Vorbehalten) auch auf die literarische Produktion dieser Jahre anwenden.

Schnitzlers Traum-Darstellung im Rahmen des TAGs vom 6. August 1922 bietet einen ›Clash of Media‹, der kaum anders als präzise konstruiert gelesen warden kann. Relevant scheint etwa die Photographie bzw. der Umgang mit ihr, die Abbildung ver-wandelt sich unter der Hand des Schreibenden in eine bewegte Szenerie, quasi ein Tableau vivant: »warte im Salon;– dort eine Photographie – wie die Gräfin im Salon sitzt, und ich komme von rückwärts, Stufen, Kamin, mit Cigarette« (die Bewegung erstarrt anschließend wieder: »aber eigentlich ist es ein Panoramabild«). Gleichsam als ginge der Betrachter in das Photo hinein, würde Teil der Erscheinung – was einem quasi hermeneutischen Verfahren gleichkäme. Aber auch eine Variante des – u.a. und gerade im Film dieser Zeit sehr beliebten – Doppelgängermotivs (Friedrich Kittler schrieb vom »Filmtrick aller Filmtricks«) ließe sich insofern konstatieren, als der betrachtende Notierende sich selbst in der Photographie »von rückwärts […] mit Cigarette« kommen sieht. Die erwähnte Krippenausstellung wurde etwa ein Jahr zuvor zweimal besucht. Der »Zeiss« wird im gesamten Tagebuch nur ein einziges Mal ›im Einsatz‹ erwähnt. Die erwähnte Dionysia ist die weibliche Hauptfigur in der 1911 erstmals erschienenen Erzählung »Die Hirtenflöte« (sie zählt zum oft herangezogenen Repertoire seiner Vorlesungen, war Schnitzler durchaus präsent – 1913 suchte er sie für den Film zu bearbeiten, was aber keine Umsetzung erfuhr) und dort gleich zu Beginn auf der »Flucht«. Die Arbeiten an der »Komödie der Verführung« stellen ab Juli 1921 ein wesentliches Thema der Arbeits-Reflexionen und/oder -Erwähnungen im Tagebuch dar (zum erwähnten Zeitpunkt hat er größte Probleme beim Bearbeiten gerade des dritten Aktes). Bei der erwähnten Szene »Besuch Max etc. bei Baronin Aurelie« steht vor allem die Reflexion der beiden Figuren über ihre einstige Liebe, die sich als unmöglich erwiesen hat, im Mittelpunkt. Das Rekurrieren auf die laufende (zu diesem Zeitpunkt nur sehr mühselig vorankommende) und die vergangene Produktion von veröffentlichbaren Texten trifft sich mit der in den 20er Jahren zunehmenden Ausarbeitung und anzunehmenden Bearbeitung von Träumen. Die Erotik nimmt wieder zu, die Traum-Darstellungen werden länger, zunehmend in zum Teil längst vergangene Rahmen eingespannt. Träume schreiben sich nicht ›von selbst‹, es gibt Widerständiges und Filter. Hinzu kommen noch Fragen nach trauminternen und -externen Aspekten und Instanzen.

Das durch die bloße Erwähnung eingebrachte Medium des Films, wie auch die den Textfluss gleichermaßen beschleunigende wie ins Stocken bringende Interpunktion, ließe sich auch als eine Kontrollinstanz ansehen, denn »[d]er Film […] zählt (wie Kriminalistik und Psychoanalyse auch) zu jenen modernen Spurensicherungstechniken, die nach Ginzburgs Einsicht Körperkontrolle optimieren.« (Kittler) Wie wichtig jedenfalls die Kontrolle der Traumhandlung ist, erweisen die sich seit den frühesten diesbezüglichen Notaten durchziehenden Analyseversuche und Einbettungen derartiger Geschehen in als ›real‹ empfundene Ereignisse. Auseinandersetzungen mit psychoanalytischen Theoremen (sowohl in negativer wie positiver Hinsicht) ziehen sich als ein roter Faden durch die Aufzeichnungen.

Wenn es sich bei dem oben angesprochenen Teil des Notats um eine Variation bzw. Parallelisierung des Doppelgänger-Motivs handelte – was für Traum-Darstellungen bereits durch die Teilung in handelnde und beobachtende Person nicht vollkommen abwegig scheint –, so scheint hier ein Weg gefunden, der (vor allem durch das vorgestellte Sujet), ein seit längerem anstehendes Problem (und zwar nicht durch seine Thematisierung, sondern durch die Aufteilung von Perspektiven und Handlungen im Rahmen einer in der Ich-Form gehaltenen Darstellung) ansatzweise zu lösen vermag.

Schnitzler verwendet seine gesamten Tagebücher hindurch das Wort »Panorama« fast nur im Zusammenhang mit der entsprechenden optischen Attraktion. Es handelte sich somit bei der Anwendung am 6/VIII/1922 um eine der ganz wenigen, an der die Ersetzung des Wortes Sinn machte und sich darunter etwa ›Landschaftsmodell‹ verstehen ließe (vor allem hinsichtlich der Perspektive von oben). Sinn könnte sich aber auch in umgekehrter Hinsicht anbieten (und dies entspricht nicht nur unserer These, sondern muss als sinnvollste Lösung deklariert werden), denn Photographie, das visuelle (und gleichzeitig die Wahrnehmungsmöglichkeit radikal verändernde) Hilfsmittel des Zeiss und der Film würden durch die Einbringung des Panoramas eine sinnvolle Ergänzung bieten. Eine weitere Lesart bietet sich an, wenn man berücksichtigt, dass Photographie, Krippenausstellung und Panorama unbewegliche Abbildungen liefern, ein Fernglas und das Kino (bzw. die Pantomime) jedoch Bewegung zu vermitteln imstande sind. Dann hätte man es mit einer in ihren Abläufen sehr genau kalkulierten Verschränkung unterschiedlichster Medien und ihren die Wahrnehmung bedingenden Eigenschaften zu tun.

In Summe (Szenen aus Texten, die sich mit seiner persönlichen Situation kurzschließen lassen, durchgehende Verweise auf die Schnitzler bekannten und von ihm frequentierten optischen Medien – und keinerlei Hinweis auf zu Kommunikationszwecken von den Traumfiguren eingesetzte Sprache, was in einer Vielzahl anderer Träume geschieht!) bleibt der Eindruck, dass es sich bei der genannten Stelle um eine überaus montierte handelt. Werkzeuge der Beobachtung, Wahrnehmung, Erkenntnisförderung, Unterhaltung und Belehrung werden in eine Traumdarstellung eingebunden, wodurch eine zusätzliche Bedeutungsebene geschaffen wird. Das scheinbar zu Analysierende, eine Traumdarstellung, stellt sich als bereits ausgearbeitet dar, insofern als der mögliche Erkenntnisgewinn bereits in der Darstellungsweise selbst eingearbeitet ist, wir es mit einer Konstruktion, einem Ergebnis zu tun haben. Der Leser steht somit vor dem Problem, dass der beobachtete Beobachter das Deutungsmonopol für sich beansprucht.