Dein Franz

Div. Zitate aus der ›Feder‹ Franz Kafkas, unformatiert, editionsphilologisch sehr unfrisch, hier sträflich unkommentiert – zum Zwecke einer Darstellung im Rahmen des Vortrags Organisation–Beobachtung–Nichts. Die Tagebücher des Beamten Kafka  (11.10., 11.30–13.00 Uhr, Universität Wien, HS 32) im Rahmen der Vorlesung »Franz Kafka und das Amt der Literatur« des Burkhardt Wolf:

›Brief‹ an Max Brod [Juli 1909]:

Mein lieber Max – rasch, weil ich so schläfrig bin. Ich bin schläfrig!

Ich weiß nicht, was ich im Augenblick vorher gemacht habe Und was ich einen Augenblick später machen werde und was ich gegenwärtig mache, weiß ich schon gar nicht. Ich löse den Knoten einer Bezirkshauptmannschaft eine Viertelstunde lang auf und räume dann sofort mit plötzlicher Geistesgegenwart einen Akt weg, den ich lange gesucht habe, den ich brauche und den ich noch nicht benützt habe. Und auf dem Sessel liegt ein solcher Haufen Reste, daß ich meine Augen nicht einmal so groß aufmachen kann, um den Haufen mit einem Blick zu sehn. […] Ich sehe, daß ich ewig weiterschreiben möchte, nur um nicht arbeiten zu müssen. Das sollte ich doch nicht.
Franz

Brod-Ausgabe d. Briefe 1902–1924 (Fischer-Vlg., 1958 &c.), S. 70

›Brief‹ an Max Brod [Juli 1909]:

Mein liebster Max, gerade wie ich über Deinen Brief nachdachte, den ich mittag bekommen hatte und mich so wunderte, daß ich Dir diesmal gegen alle Regel nicht zu ihr verholfen hatte und wie ich so studierte, auf welche Weise ich Dich trösten würde, wenn ich Deine Mutter wäre und davon wüßte (mittag Erdbeeren mit verzuckertem sauerem Schmetten, nachmittag in den Wald zwischen Mnichovic und Stranschitz zum Schlafen geschickt, abend ein Liter Pschorr) da ist gerade Deine Karte gekommen mit guten Nachrichten und der allerbesten, daß das Fräulein Sängerin vierzehn Tage lang den Roman in Ruhe läßt, denn selbst der beste Roman könnte das nicht lange vertragen, daß das gleiche Mädchen ununterbrochen und zugleich von innen und außen auf ihn drückt. Auch daß das andere Fräulein aufatmen wird, ist gut, denn sie leidet durch die andere, ohne es zu wissen, ohne es verdient, ohne es verschuldet zu haben.

Daß ich Donnerstag zu Baum soll, habe ich aus Deinem Briefe hingenommen, aus Deiner Karte sehe ich gern die Möglichkeit, nicht kommen zu müssen, denn ich werde Donnerstag ebenso unfähig sein, wie ich es Montag gewesen wäre. Sein Roman freut mich ja so, und wenn ich mich aus meinem Zeug herausgearbeitet habe, tue ich Donnerstag nichts lieber als hingehn, aber er und seine Frau sollen nicht böse sein, wenn ich vielleicht wieder nicht komme.

Denn was ich zu tun habe! In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen von meinen übrigen Arbeiten abgesehn wie betrunken die Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschinen hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinauf gibt, das stürzt hinunter, was man herunter gibt, darüber stürzt man selbst. Und man bekommt Kopfschmerzen von diesen jungen Mädchen in den Porzellanfabriken, die unaufhörlich mit Türmen von Geschirr sich auf die Treppe werfen.
Montag habe ich vielleicht das Ärgste hinter mir. Schon vergesse ich fast: Komm wenn Du kannst morgen Mittwoch gegen acht zu mir ins Geschäft, um mir wegen des Novak zu raten.
Aus dem Gelage machen wir, wenn Du einverstanden bist, einen Wanderpreis und halten es nächstens nach dem Abschluß Deines Romans ab. Und jetzt in die Akten.
Dein Franz

Brod-Ausgabe d. Briefe 1902–1924 (Fischer-Vlg., 1958 &c.), S. 72f.

›Tagebuch‹ [Dezember 1910]

24 Jetzt habe ich meinen Schreibtisch genauer angeschaut und eingesehn, daß auf ihm nichts Gutes gemacht werden kann. Es liegt hier so vieles herum und bildet eine Unordnung ohne Gleichmäßigkeit und ohne jede Verträglichkeit der ungeordneten Dinge, die sonst jede Unordnung erträglich macht. Sei auf dem grünen Tuch eine Unordnung, wie sie will, das durfte auch im Parterre der alten Teater sein. Daß aber aus den Stehplätzen

25 aus dem offenen Fach unter dem Tischaufsatz hervor Broschüren, alte Zeitungen, Kataloge, Ansichtskarten, Briefe, alle zum Teil zerrissen, zum Teil geöffnet in Form einer Freitreppe hervorkommen, dieser unwürdige Zustand verdirbt alles. Einzelne verhältnismäßig riesige Dinge des Parterres treten in möglichster Aktivität auf, als wäre es im Theater erlaubt, daß im Zuschauerraum der Kaufmann seine Geschäftsbücher ordnet, der Zimmermann hämmert, der Officier den Säbel schwenkt, der Geistliche dem Herzen zuredet, der Gelehrte dem Verstand, der Politiker dem Bürgersinn, daß die Liebenden sich nicht zurückhalten u. s. w. Nur auf meinem Schreibtisch steht der Rasierspiegel aufrecht, wie man ihn zum Rasieren braucht, die Kleiderbürste liegt mit ihrer Borstenfläche auf dem Tisch, das Portemonnaie liegt offen für den Fall, daß ich zahlen will, aus dem Schlüsselbund ragt ein Schlüssel fertig zur Arbeit vor und die Kravatte schlingt sich noch teilweise um den ausgezogenen Kragen. Das nächst höhere, durch die kleinen geschlossenen Seitenschubladen schon eingeengte offene Fach des Aufsatzes ist nichts als eine Rumpelkammer, so als würde der niedrige Balkon des Zuschauerraumes, im Grunde die sichtbarste Stelle des Teaters für die gemeinsten Leute reserviert für alte Lebemänner, bei denen der Schmutz allmählich von innen nach außen kommt, rohe Kerle, welche die Füße über das Balkongeländer herunterhängen lassen. Familien mit soviel Kindern, daß man nur kurz hinschaut, ohne sie zählen zu können, richten hier den Schmutz armer Kinderstuben ein (es rinnt ja schon im Parterre) im dunklen Hintergrund sitzen unheilbare Kranke, man sieht sie glücklicherweise nur, wenn man hineinleuchtet u. s. w. In diesem Fach liegen alte Papiere die ich längst weggeworfen hätte, wenn ich einen Papierkorb hätte, Bleistifte mit abgebrochenen Spitzen, eine leere Zündholzschachtel, ein Briefbeschwerer aus Karlsbad, ein Lineal mit einer Kante, deren Holprigkeit für eine Landstraße zu arg wäre, viele Kragenknöpfe, stumpfe Rasiermessereinlagen (für die ist kein Platz auf der Welt), Krawattenzwicker und noch ein schwerer eiserner Briefbeschwerer. In dem Fach darüber –

Elend, elend und doch gut gemeint. Es ist ja Mitternacht, aber das ist, da ich sehr gut ausgeschlafen bin, nur insofern Entschuldigung, als ich bei Tag überhaupt nichts geschrieben hätte. Die angezündete Glühlampe, die stille Wohnung, das Dunkel draußen, die letzten Augenblicke des Wachseins, sie geben mir das Recht zu schreiben und sei es auch das Elendste. Und dieses Recht benutze ich eilig. Das bin ich also.

Pasley-Ausgabe d. Tagebücher 1909–1912 (Fischer-Vlg., 1994), S. 108f.; vgl. dazu eine Einschätzung dieser Passage ho. – und vgl. weiters die Darstellung von Slothrops Schreibtisch in Pynchons Gravity’s Rainbow! (Einmal ganz abgesehen vom Schreibtisch, den Kafkas erster Romanheld, Karl Rossmann, im Haus des amerikanischen Onkels bewundert… cit. hic; weiters von etwas Bedeutung: die Darstellung des idealen Amtsschreibtisches in den Vorträgen Erich v. Kielmanseggs, wenn er sich 1906 um die große Bürokratiereform, um eine neue Kanzleiordnung bemüht. )

›Tagebuch‹ [1914]:

7. Oktober. Ich habe mir eine Woche Urlaub genommen, um den Roman vorwärtszutreiben. Es ist bis heute – heute ist Mittwoch nacht, Montag geht mein Urlaub zu Ende – mißlungen. Ich habe wenig und schwächlich geschrieben. Allerdings war ich schon in der vorigen Woche im Niedergang; daß es aber so schlimm werden würde, konnte ich nicht voraussehn. Erlauben diese drei Tage schon Schlüsse darauf, daß ich nicht würdig bin, ohne Bureau zu leben?
15. Oktober. […] Das Tagebuch ein wenig durchblättert. Eine Art Ahnung der Organisation eines solchen Lebens bekommen.
19. Dezember. Gestern den ›Dorfschullehrer‹ fast bewußtlos geschrieben, fürchtete mich aber, länger als bis dreiviertel zwei zu schreiben, die Furcht war begründet, ich schlief fast gar nicht, machte nur etwa drei kurze Träume durch und war dann im Bureau in entsprechendem Zustand. Gestern die Vorwürfe des Vaters wegen der Fabrik : »Du hast mich hineingetanzt.« Ging dann nach Hause und schrieb ruhig drei Stunden, im Bewußtsein dessen, daß meine Schuld zweifellos ist, wenn auch nicht so groß, wie sie der Vater darstellt. Ging heute, Samstag, nicht zum Nachtmahl, teils aus Furcht vor dem Vater, teils um die Nacht für die Arbeit ganz auszunützen, ich schrieb aber nur eine und nicht sehr gute Seite. 
Anfang jeder Novelle zunächst lächerlich. Es scheint hoffnungslos, daß dieser neue, noch unfertige, überall empfindliche Organismus in der fertigen Organisation der Welt sich wird erhalten können, die wie jede fertige Organisation danach strebt, sich abzuschließen. Allerdings vergißt man hiebei, daß die Novelle, falls sie berechtigt ist, ihre fertige Organisation in sich trägt, auch wenn sie sich noch nicht ganz entfaltet hat; darum ist die Verzweiflung in dieser Hinsicht vor dem Anfang einer Novelle unberechtigt; ebenso müßten Eltern vor dem Säugling verzweifeln, denn dieses elende und besonders lächerliche Wesen hatten sie nicht auf die Welt bringen wollen. Allerdings weiß man niemals, ob die Verzweiflung, die man fühlt, die berechtigte oder die unberechtigte ist. Aber einen gewissen Halt kann diese Überlegung geben, das Fehlen dieser Erfahrung hat mir schon geschadet. 

Pasley-Ausgabe d. Tagebücher 1914–1923 (Fischer-Vlg., 1994), S. 39, 41, 65

›Tagebuch‹ [22.09.1917]:

Nichts

Quartheft No. 1: [Eintrag v. 3.10.1911]

Beim Diktieren einer größeren Anzeige an eine Bezirkshauptmannschaft im Bureau. Im Schluß, der sich aufschwingen sollte, blieb ich stecken und konnte nichts als das Maschinenfräulein K. ansehn, die nach ihrer Gewohnheit besonders lebhaft wurde, ihren Sessel rückte, hustete, auf dem Tisch herumtippte und so das ganze Zimmer auf mein Unglück aufmerksam machte. Der gesuchte Einfall bekommt jetzt auch den Wert, daß er sie ruhig machen wird, und läßt sich, je wertvoller er wird, desto schwerer finden. Endlich habe ich das Wort »brandmarken« und den dazu gehörigen Satz, halte alles aber noch im Mund mit einem Ekel und Schamgefühl, wie wenn es rohes Fleisch, aus mir geschnittenes Fleisch wäre (solche Mühe hat es mich gekostet.) Endlich sage ich es, behalte aber den großen Schrecken, daß zu einer dichterischen Arbeit alles in mir bereit ist und eine solche Arbeit eine himmlische Auflösung und ein wirkliches Lebendig werden für mich wäre, während ich hier im Bureau um eines so elenden Aktenstückes willen einen solchen Glückes fähigen Körper um ein Stück seines Fleisches berauben muß. 

Pasley-Ausgabe d. Tagebücher 1909–1912 (Fischer-Vlg., 1994), S. 45 (Oxforder Quartheft No. 1, 29r f.)

An diese Notation schließt sich jene vom 4.10., u.a.: »Ich bin unruhig und giftig. Gestern vor dem Einschlafen hatte ich links oben im Kopf ein flackerndes kühles Flämmchen. Über meinem linken Auge hat sich eine Spannung schon eingebürgert. Denke ich daran, so scheint es mir, daß ich es im Bureau auch dann nicht aushalten könnte, wenn man mir sagte, daß ich in einem Monat frei sein werde. Und doch tue ich im Bureau meist meine Pflicht, bin recht ruhig, wenn ich der Zufriedenheit meines Chefs sicher sein kann, und empfinde meinen Zustand nicht als einen schrecklichen.« (Oxforder Quartheft No. 1, 29v)

(Daran fügt sich, ebenfalls für den 4.10. ausgewiesen, nach einem Querstrich jenes Notat, das in Lampenbahn bereits aufgegriffen wurde – die Verwandlung unter den Bedingungen der Elektrizität, der Elektrischen und des Lichts.)

Oktavheft No. 5:

Ich könnte sehr zufrieden sein. Ich bin Beamter beim Magistrat. Wie schön ist es Beamter beim Magistrat zu sein. Wenig Arbeit, genügender Gehalt, viel frei Zeit und übermässiges Ansehen überall in der Stadt. Stelle ich mir die Situation eines Magistratsbeamten scharf vor, beneide ich ihn unweigerlich. Und nun bin ich es, bin Magistr beamter, – und wollte wenn ich könnte, diese ganze Würde der Bureaukatze zum Aufressen geben, die jeden Vormittages von Zimmer zu Zimmer wandert, um die Reste des Gabelfrühstück einzusammeln

nach der Reuß/Staengle-Ausgabe (Stroemfeld 2009), 1vf.

Zürauer ›Zettel‹ No. 47:

Es wurde ihnen die Wahl gestellt Könige [/] oder der Könige Kuriere zu werden. Nach [/] Art der Kinder wollten alle Kuriere [/] sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie [/] jagen durch die Welt und rufen, da [/] es keine Könige gibt, einander selbst [/] die sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne [/] würden sie ihrem elenden Leben ein Ende [/] machen, aber sie wagen es nicht wegen [/] des Diensteides.

Reuß/Staengle-Ausgabe (Stroemfeld, 2011), Z. 47; vgl. dazu Oktavheft Nr. 7, 24r–24v

›Zettel‹ für Max Brod [~ Nov. 1922]:

Liebster Max, meine letzte Bitte: alles, was sich in meinem Nachlass (also im Buchkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eignen, Gezeichnetem u. s. w. findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten.
Dein
Franz Kafka.

zit. nach Pasyley (Hg.): Max Bord. Franz Kafka. Eine Freundschaft II (1989), S. 365; cf. insgesamt zu den beiden den »Nachlass« betreffenden ›Verfügungen‹ Kafkas: hier. (An dieser Stelle auch die Frage danach, inwieweit Schriften in einem Bureau – im Amt – nach dem Ableben des Verfassers für die Nachlassverwaltung verfügbar sind.)

›Tagebuch‹ von der Reise nach Paris [1911]:

Das Protokoll des do. gesehenen und aufgenommenen Verkehrsunfalls (Pasley-Ausgabe der »Reisetagebücher« [Fischer-Vlg., 1994], S. 75–78) gehörte mit in die Reihe (vgl. dazu auch die Notationen des Max Brod (ibid., S. 191); dies wurde jedoch bereits weitgehend von Burkhardt Wolf in ›Prot. auf.‹ Kafkas Mitschriften der Bürokratie dargestellt. Vgl. dazu auch wesentlich Benno Wagner: Kafkas Poetik des Unfalls. In: Christian Kassung (Hg.): Die Unordung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls. Bielefeld: transcript 2009, S. 421–454.


[Wird fortlaufend ergänzt.]