Kanzleiordnung (1923)

Kanzleiordnung für die Bundesministerien.
(Genehmigt mit Beschluß des Ministerrates vom 18. Juli 1923.)
Abschnitt I.
Grundlegende Bestimmungen.

1. Geschäftsplan.
(1) Die Grundlage für die formale Geschäftsbehandlung bildet in jedem Bundesministerium der vom zuständigen Bundesminister im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler festgesetzte Geschäftsplan, auf den sich auch die Geschäftseinteilung des Bundesministeriums aufbaut.
(2) Der Geschäftsplan hat aus einer kurzen systematischen Aufzählung aller jener Angelegenheiten, die in den Wirkungsbereich des Bundesministeriums fallen oder den Gegenstand seiner amtlichen Tätigkeit bilden können, zu bestehen und ist in eine nicht zu große Anzahl von Abschnitten und Unterabschnitten zu gliedern, zu deren Unterscheidung einfache Geschäftszeichen dienen.

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2. Geschäftszahl: Grundzahl.
(1) Jedes als solches zu behandelnde Geschäftsstücke hat eine eigene Geschäftszahl zu erhalten.
(2) Die Geschäftszahl besteht aus einer Nummer und der – durch einen Bindestrich getrennten – Bezeichnung der Abteilung, in der das Geschäftsstück nach der für das Bundesministerium geltenden Geschäftseinteilung zu behandeln ist. Im Bedarfsfalle ist auch die Jahreszahl – durch einen schrägen Bruchstrich getrennt – beizufügen.
(3) Die Nummern der Geschäftsstücke sind in jedem Kalenderjahr mit 1 zu beginnen und nach der Zahlenfolge durch das ganze Jahr fortzusetzen, und zwar einheitlich für den ganzen Bereich des Bundesministeriums, soweit nicht vom Bundesminister in besonders begründeten Ausnahmefällen für bestimmte Geschäftsabschnitte eine abweichende Anordnung getroffen wird.
(4) Geschäftsstücke, die eine und dieselbe Angelegenheit betreffen, sind – unbeschadet ihrer gesonderten Numerierung – innerhalb eines Kalenderjahres unter der Geschäftszahl zusammenzuhalten, die das erste über diese Angelegenheit innerhalb des Jahres gelaufene Geschäftsstücke erhalten hat.  Diese Zahl ist die Grundzahl. Die Geschäftszahlen der weiteren Geschäftsstücke in dieser Angelegenheit sind die Nachzahlen.

3. Bezeichnung des Gegenstandes.
Jedes Geschäftsstück hat eine Bezeichnung seines Gegenstandes zu erhalten. Diese Bezeichnung ist kurz und mit wenigen Worten derart zu fassen, daß daraus
a) der Geschäftsabschnitt, unter den der Gegenstand gehört (Punkt 1, Absatz 2),
b) die besondere Angelegenheit, um die es sich handelt, und
c) womöglich auch der Stand dieser Angelegenheit zu entnehmen sind.*)


*) Die Gegenstandsbezeichnung hat daher mindestens aus einem sachlichen Hinweis auf den Gegenstand – wenn irgend tunlich, unter Verwendung der im Geschäftsplan enthaltenen Schlagworte – zu bestehen (zum Beispiel: „Gebarung im Mai 1923, Geldzuweisung für das Unterrichtsressort“). Hierzu hat nach Lage des Falles entweder eine Ortsbezeichnung oder die Bezeichnung des etwa in Betracht kommenden Unternehmens, Vereines, der Anstalt usw. zu treten (zum Beispiel: „Donauregulierung bei Dürnstein“ oder „Maschinenüberlassung, Tischlergenossenschaft Waltersdorf“). Wenn der Inhalt des Geschäftsstückes vorwiegend das Interesse einer bestimmten Person betrifft, so sind auch Zu- und Vorname dieser Person anzugeben (zum Beispiel: „Gast- und Schankgewerbekonzession Mayer Alois“). Soweit es sich um individuelle Personalangelegenheiten handelt, ist die Gegenstandsbezeichnung mit der Anführung des Namens zu beginnen (zum Beispiel: „Groß Adolf, Kanzlist, Versetzung in den dauernden Ruhestand“). Der Stand der Angelegenheit kann durch einen kurzen Zusatz bezeichnet werden (zum Beispiel: „Wehranlage Müller Karl in Oberndorf, Verwaltungsgerichtshofbeschwerde“).


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4. Fortlaufende Schreibweise; Papiergröße; Papierverwendung.
(1) Alle Niederschriften sind unter Festhaltung des Grundsatzes der fortlaufenden Schreibweise derart abzufassen, daß die Papierblätter immer tunlichst ausgenützt werden und die zeitliche Aufeinanderfolge eingehalten wird.
(2) Nach Aufbrauch der Vorräte an Papier der derzeit üblichen Größe (210 X 340 mm) ist zur Papiergröße 210 X 297 mmüberzugehen.
(3) Bei allen Niederschriften ist, soweit im nachstehenden nicht anderes angeordnet wird, das Papier über die ganze Breite zu beschreiben, wobei jedoch am Innenrande ein ungefähr 2 cmbreiter Streifen frei zu lassen ist.
(4) Ganze Bogen sind nur zu verwenden, wenn mit einem Blatt (halber Bogen) das Auslangen nicht gefunden werden kann. Dagegen ist die Benützung halber Blätter (Viertelbogen) lediglich für Dienstzettel, Betreibungen u. dgl., die nach den Bestimmungen dieser Kanzleiordnung nicht als eigene Geschäftsstücke zu behandeln sind, zulässig.


&c. – 16 Seiten, die die Ministerien grundlegend veränderten.

Anmerkungen:
1. Mit dieser Kanzleiordnung für die Bundesministerien wechselte Österreichs Bundesverwaltung am 18.7.1923– cf. die angeführten Papiermaße unter I. 4. (2) – vom Goldenen Schnitt (1:1,618) zur Deutschen Industrie Norm (1:1,414, z.B. wie oben als neues Maß angegeben: A4). Das Deutsche Institut für Normung hatte am 18. August 1922 die DIN-Norm 476 und damit das Verhältnis zwischen Breite und Höhe bei den Blattgrößen festgelegt. Die Industrialisierung der Formate bedeutet auch inhaltlich – für die Schreibfläche und also die Textierung – einen Paradigmenwechsel; überdies auch für die Ablagen (Fächer, Kartons, Mappen …). Hinzu kommen die Durchschlagpapiere: das was in den E-Mails als CC geführt wird, die „Carbon Copy“. Schreibmaschinenzeitalter & Kohlepapier … Wodurch sich Schreibkräfte für Abschriften einsparen lassen. Dafür lassen sich nun die Bogenangaben (I. 4. (4)) präzise und international gebräuchlich (damit auch in der Bestellung und Anschaffung standardisierbar) vornehmen – wodurch sich wiederum die möglichen Schreibflächen von z.B. Protokollvordrucken und Formularen normieren lassen. Für die A-Reihe der Papiere ist die Breitenangabe 210 mm (A4) charakteristisch; diese war davor u.a. auch für die Breite des Folio-Formats (ah, Ordnung!) charakteristisch. Das Seitenverhältnis von 1:√2 ist zwar nicht neu, wurde aber erst nach dem Ersten Weltkrieg zum bald danach internationalen Standard.
2. Das 290. Ministerrats-Protokoll v. 18.07.1923 findet sich im Österreichischen Staatsarchiv (Archiv der Republik) mit der Signatur AT-OeStA/AdR MRang MR 1. Rep. MRP, 290.
3. Robert Musil erwarb im Dezember 1923 seine erste Schreibmaschine. Den *Underwood Standard Portable Typewriter*. Davor nutzte er Heeresgerät. Am 7. Juli 1923 wird er schreiben: »Denn ein Auge des Gesetzes sieht einem zu, man weiß nicht einmal, wo es sein Bureau hat, und dem macht man nichts vor. Eines Tages wird man verleumundet und erkennt sich niemals mehr wieder.« (Musil, Sittenämter, 1923) Das hätte wiederum auch Sigmund Freud interessiert, der war aber gerade sehr damit beschäftigt, seine durchaus Fach-Tropen auf den Markt zu bringen: Ich, Es, Über-Ich.

3.a) [Einsichtsbemerkung v. 2.3.2020:] Die Blätter in Musils Nachlass zum Mann ohne Eigenschaften – 2.030 Kanzleiblätter, 3.534 Kanzleidoppelblätter – stammen hinsichtlich ihrer Herstellung sehr wahrscheinlich aus der Zeit bis 1923; Anfang 1923 war er aus dem Staatsdienst ausgeschieden und wohl ab Herbst 1923 wird der Papierhandel in Österreich sich wie die Ämter auf die DIN-Formate umgestellt gehabt haben. Musils Aufschreibesystem basierte somit neben den Heften (die Frisé später als »Tagebücher« klassifizieren wird) und den gedruckten Seiten auf Papier aus Zeiten der Monarchie bzw. deren ganz unmittelbarem Nachgang. Das hat Auswirkungen für die Beantwortung der Frage nach den Arrangements seiner Schreibakte.
3.b) [Einsichtsbemerkung v. 4.5.2021:] Musils Mann ohne Eigenschaften Ulrich wird sich zwischen der k.k. nebst k.u.k. – d.h. der staatlichen, einschließlich der Polizei- – Verwaltung einerseits, der inoffiziellen und daran in den Weltkrieg hinein scheiternden Pseudo-Verwaltung einer »Parallelaktion« andererseits und zum Dritten den Angeboten und Mechanismen der privaten Verwaltung eines Arnheim trianguliert finden. Apropos Rathenau:
4. Hier [nicht nur bei Rathenaus Kriegswirtschaft und in der AEG, sondern wieder konkret 1923; Anm.] werden sehr unmittelbar Arbeitsbedingungen der Bürokratie verhandelt, die Betriebsmittel ihrer »assembly lines«, der Datenerfassung und -verwaltung. Dies lässt sich in weiter reichenden Zusammenhängen sehen. Jenen des Fließbands, der Mediengeschichte oder auch des Walfangs und der Schlachthöfe; und somit wie selbstverständlich des Krieges:

Was das »American System of manufactures« gerade nicht gewesen war, wurde seit 1917 zum Markenzeichen der deutschen Rüstungsindustrie und, seit Versailles, der deutschen Industrie überhaupt: DIN, die Deutsche Industrienorm, trat ihre Herrschaft an. Und als die frühen DIN-Normen 4 und 5 auch noch daran gingen, die DIN-Norm selbst nach Papierformaten, Letternformen, Zeichenstiften undsoweiter zu standardisieren, war das System ebenso drucktechnisch wie autoreferenziell geschlossen.

Friedrich Kittler: Von der Letter zum Bit. In: Gutenberg und die Neue Welt. Hg. v. Horst Wenzel in Zusammenarbeit mit Friedrich Kittler u. Manfred Schneider. München: Fink 1994, S. 105–117, hier S. 115.

Was das konkret bedeutet/e, ersieht man anhand eben des österreichischen Anwendungsbeispiels bis in die Details [☞ hier geht’s zur Fortsetzung 1]; zugleich aber sind wir durchaus – aus dem Ersten Weltkrieg mit seinen Schützengräben, Ballistik und medientechnischen Revolutions- nebst Hirnsprüngen – im Maschinenzeitalter angelangt und damit, sozusagen, in Erewhon. [☞ hier geht’s zur Fortsetzung 2]


☞ notwendiger Querverweis 1: Ein Ministerrat im Juli 1923

☞ notwendiger Querverweis 2: Erewhon