
Niklas Luhmann: Theorie der Verwaltungswissenschaft. Bestandsaufnahme und Entwurf. Köln: Grote’sche Verlagsbuchhandlung 1966, S. 12–14:
Wie schon angedeutet, bedrohen die neuen und wohl unausweichlichen Fachspezialisierungen Begriff und Ethos des Berufsbeamtentums an der Wurzel. Sie zersetzen die einheitliche Ausrichtung und die Verständigungsmöglichkeiten innerhalb der Verwaltung durch divergierende Fachsprachen und Konflikte zwischen Berufsgruppen. Schon das demokratische Parteiensystem und der Ansturm der dadurch nicht absorbierten Interessen wirkt zersplitternd. An die Politik kann der Beamte sich nicht anlehnen. Das Recht gibt ihm zwar ein Gerippe von Positionen, die nach allen Seiten verteidigungsfähig sind, aber keine ausreichende Handlungsgrundlage. Und nun scheint auch die für Max Weber noch unbezweifelbare einheitliche Grundlage seines Fachwissens sich aufzulösen. Ein aufmerksamer Beobachter dieser Gefahr sucht Haltepunkte im sozialen Status einer sachlich eingestellten, politisch aufgeschlossenen, aber nicht engagierten Aktionsgruppe der höheren Beamtenschaft einerseits, in einer Verwaltungsethik andererseits. [FN 1] Für solche Bestrebungen ist ein homogenes intellektuelles Fundament unerläßlich. Es könnte – die Sozialwissenschaften sind, wie wir zeigen wollen, dazu herangereift – in einer allgemeinen Theorie der Verwaltung geschaffen werden.
Zum Juristenmonopol
Einstweilen ist dieser Platz des breit orientierten Verwaltungsbeamten in der deutschen und in vielen kontinentaleuropäischen Verwaltungen durch den Juristen besetzt. Diese Lösung ist nicht nur historisch erklärbar. Sie hatte auch in der Sache zunächst manches für sich. Jedes Staatswesen muß sich eine Rechtsordnung geben, deren fachmännische Handhabung seinen Beamten obliegt. Das Recht zweigt in alle Lebenssphären und alle Wissensbereiche aus. Der Jurist sollte daher alles Wissen, das die Rechtsordnung voraussetzt, sich, wenn nicht erarbeiten, so doch beschaffen und es in seinen Entscheidungen darstellen können. Unter allen Spezialisten scheint er deshalb derjenige zu sein, den seine Rolle am ehesten dazu disponiert, über sich selbst hinaus und in eine Orientierung am Gemeinwohl hineinzuwachsen. Lebenserfahrene, abgewogen und politisch vorsichtig urteilende Juristen sind in den Zentralinstanzen der Verwaltung keine Seltenheit.
Doch diese Erwartung wird mehr und mehr zu einer utopischen Ideologie, und zwar deshalb, weil die Zentralität dieses Rollenbildes nicht durch eine entsprechende Zentralität des juristischen Fachwissens gestützt wird. Die Rechtswissenschaft deckt den Entscheidungsbedarf, der in einer solchen Rollenauffassung vorausgesetzt wird, nicht, und ihre Grundbegriffe eignen sich nicht als Kontaktbegriffe zu anderen Wissenszweigen. Das macht die allgemeine Wissenschaftsentwicklung zunehmend deutlich.
Die Rechtswissenschaft ist, wenn man nicht nach ihren höchsten Ansprüchen urteilt, sondern sie gleichsam soziologisch auf ihre praktischen Leistungen hin ansieht, zu einer Lehre vom positiven Recht, seiner Auslegung und seiner begrifflich-dogmatischen Harmonisierung zusammengeschrumpft. [FN 2] Es gibt zum Beispiel keine nennenswerte wissenschaftliche Rechtspolitik und Ansätze zu einer Rechtssoziologie formieren sich, wenn überhaupt, nicht auf der Grundlage der juristischen Dogmatik. Damit soll kein Versäumnis angezeigt werden. Vielmehr dient diese Entwicklung der sozialen Differenzierung, die einen Ausbau des Rechts zu immenser Komplexität und rascher Veränderlichkeit, also volle Positivierung des Rechts, erzwingt. Das Recht ist damit voll und ganz staatlich organisierten Entscheidungstätigkeiten überantwortet. Seine Anwendung erfordert eine stets auf dem laufenden zu haltende Kenntnis zahlreicher Normen und die Beherrschung sehr spezieller Denkfiguren und Argumentationsmittel. Das sind Kenntnisse und Fertigkeiten, die als solche vervollkommnet werden müssen. Wenn sich die Entartung des Rechtswissens zu einem bloß ausschnitthaften Arbeitsplatzwissen vermeiden läßt, ist schon überdurchschnittliches erreicht. Eine Einarbeitung in den Denkstil anderer Wissenschaften ist für den Juristen nicht möglich, zumal seine Entscheidungsprämissen und seine dogmatisch-exegetische Technik der Fallbearbeitung ihm den Zugang eher verbauen als erschließen. Die Zweck/Mittel-Logik wirtschaftlicher Planung, die statistischen Methoden der Informationsgewinnung und -verdichtung, die psychologische oder soziologische Aufhellung latenter Systemfunktionen ruhen auf gänzlich andersartigen Grundorientierungen, die im Rahmen juristischer Entscheidungsbegründungen weder fruchtbar gemacht noch dargestellt werden können. All dies ist so heterogen, daß es auch in dem Rollenbild des »aufgeschlossenen«, »gebildeten« Juristen nicht verschmolzen werden kann. In dem Maße, als alle diese Orientierungen in der Verwaltung herangezogen und genützt werden müssen, verliert der Führungsanspruch des Juristen seine traditionelle Selbstverständlichkeit.
FN 1: Siehe Fritz Morstein Marx, The Higher Civil Service as an Action Group in Western Political Development, in: Joseph LaPalombara (Hrsg.), Bureaucracy and Political Development, Princeton N. J. 1963, S. 62-95; ders., Beamtenethos und Verwaltungsethik: Eine einführende Skizze, Verwaltungsarchiv 54 (1963), S. 323-344; ders., Das Dilemma des Verwaltungsmannes, Berlin 1965, insbes. S. 75 ff.
FN 2: Das gilt auch für die allgemeinen Lehren des deutschen Verwaltungsrechts, die namentlich seit dem Vollausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit ihre rechtskritische Funktion praktisch verloren haben. Diesen Eindruck hinterläßt mit aller Deutlichkeit die Beratung des Problems einer gesetzlichen Kodifikation auf dem 43. Deutschen Juristentag. Für das »Allgemeine Deutsche Staatsrecht« hatte diese Entwicklung schon mit Carl Friedrich von Gerber eingesetzt und nach der Reichsgründung mit Paul Laband ihren Abschluß gefunden.
Hinweis: 1966 bringt Luhmann auch seine Dissertation Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung zum Druck; diese und die hier zitierte Theorie der Verwaltungswissenschaft sind zusammen zu lesen.