Öl, Sektionsrat: Ziemlich groß. Abfallende Schultern. Breites Becken. Weißes Hanswurstgesicht mit etwas schiefer Kipfelerdapfelnase. Gut gekleidet mit einem etwas zu korrekt gebundenem Mascherl. Mund wie ein etwas verschobener Pfeilbogen. Leise Unverschämtheit im Auftreten des sich gut aufgehoben wissenden Menschen. Weiße, weiche bürokratische Accoucheurhände, die alle aktenmäßigen Schwierigkeiten beseitigen. Sicher ein pendant zu gutem Generalstäbler.
Robert Musil: Nachlass Heft 9/53 (Notizheft aus dem Nachlass, Herbst 1914 und Januar – Mai/Juni 1920)
Gemünzt ist dies wohl auf Dr. Rudolf Oehl – der im »Mann ohne Eigenschaften« seine literarische Funktionalisierung erfährt (geb. 1880, gest. 1939; Vizepräsident des Rechnungshofes in Wien, mutmaßlich Karrierist und/oder Austrofaschist).
1922, als Musil sein letztes Arbeitsjahr im Amt hat, sitzt Oehl bereits im Rechnungshof, ist noch Hofrat und arbeitet im Präsidialbureau mit (1925 wird er immer noch Hofrat sein, aber schon die Abteilung 1 leiten, das Präsidialbureau, zugleich Budgetreferat, hauptzuständig für die Kontrolle in den Bereichen Unterricht und Soziales sein; spätestens 1931 wird er Vizepräsident geworden sein). Zu lesen ist dafür Kapitel I.81 des MoE, »«Graf Leinsdorf äußert sich über Realpolitik. Ulrich gründet Vereine«:
Die meisten hatten aber schon einen Verein, und da war die Sache anders. Verhältnismäßig einfach, wenn ein Fußballverein anregte, seinem Rechtsaußen den Professortitel zu verleihen, um die Wichtigkeit der neuzeitlichen Körperkultur zu dokumentieren; denn da konnte man immerhin Entgegenkommen in Aussicht stellen. Schwierig jedoch in Fällen wie dem folgenden, wo der Besuch eines etwa fünfzigjährigen Mannes zu empfangen war, der sich als Kanzleioberoffizial vorstellte; seine Stirn hatte das Leuchten von Märtyrerstirnen, und er erklärte, der Gründer und Obmann des Stenographievereins »Öhl« zu sein, der sich erlaube, das Interesse des Sekretärs der großen patriotischen Aktion auf das Kurzschriftsystem »Öhl« zu lenken.
Robert Musil, MoE I.81 (GA Bd. 2, S. 52–55)
Das Kurzschriftsystem Öhl, führte er aus, sei eine österreichische Erfindung, woraus sich wohl zur Genüge erkläre, daß es keine Verbreitung und Förderung finde. Er frage den Herrn, ob er Stenograph sei; was dieser verneinte, und also wurden ihm die geistigen Vorzüge einer Kurzschrift auseinandergesetzt. Zeitersparnis, Ersparnis geistiger Energie; was er wohl glaube, welche Menge geistiger Arbeitsleistung täglich an diese Häkelchen, Weitschweifigkeiten, Ungenauigkeiten, verwirrenden Wiederholungen ähnlicher Teilbilder, Vermengung von wirklich ausdrückenden, signifikanten Schriftbestandteilen mit lediglich floskelhaften und persönlich willkürlichen verschwendet werde? – Ulrich lernte zu seinem Erstaunen einen Mann kennen, der die scheinbar harmlose Alltagschrift [sic] mit einem unerbittlichen Haß verfolgte. Vom Standpunkt der Ersparnis geistiger Arbeit war die Kurzschrift eine Lebensfrage der sich im Zeichen der Hast vorwärtsentwickelnden Menschheit. Aber auch vom Standpunkt der Moral zeigte sich die Frage Kurz oder Lang von entscheidender Bedeutung. Die Langohr-Schrift, wie man sie nach des Oberoffizials bitterem Ausdruck wegen ihrer sinnlosen Schlingen füglich nennen dürfte, verleite zur Ungenauigkeit, Willkür, Verschwendungssucht und nachlässigem Zeitgebrauch, wogegen die Kurzschrift zu Präzision, Willensanspannung und männlicher Haltung erziehe. Die Kurzschrift lehre das Notwendige tun und dem Unnötigen, nicht zum Zweck Dienenden, sich entziehen. Ob der Herr nicht glaube, daß hierin ein Stück praktischer Moral stecke, das zumal für den Österreicher von größter Bedeutung wäre? Aber auch vom ästhetischen Standpunkt dürfe man die Frage behandeln. Ob Weitschweifigkeit nicht mit Recht als häßlich gelte? Ob der Ausdruck höchster Zweckmäßigkeit nicht schon von den großen Klassikern für einen wesentlichen Bestandteil des Schönen erklärt worden sei? Aber auch vom Standpunkt der Volksgesundheit – fuhr der Oberoffizial fort – sei es von hervorragender Wichtigkeit, die Zeit gebückten Über-dem-Schreibtisch-Sitzens abzukürzen. Nachdem dergestalt die Frage der Kurzschrift zu des Zuhörers Erstaunen auch noch von anderen Wissenschaften her erörtert war, ging sein Besuch erst dazu über, ihm die unendliche Überlegenheit des Systems Öhl über alle andern Systeme darzulegen. Er zeigte ihm, daß nach sämtlichen dargelegten Gesichtspunkten jedes andere Kurzschriftsystem nur ein Verrat am Gedanken der Kurzschrift sei. Und dann entwickelte er die Geschichte seiner Leiden. Es waren da die älteren, mächtigeren Systeme, die bereits Zeit gefunden hatten, sich mit allen möglichen materiellen Interessen zu verbinden. Die Handelsschulen lehrten das System Vogelbauch und setzten jeder Änderung ihren Widerstand entgegen, dem sich – dem Gesetz der Trägheit folgend – die Kaufmannschaft natürlich anschließe. Die Zeitungen, die an den Anzeigen der Handelsschulen, wie man sehen könne, eine Menge Geld verdienen, verschließen sich allen Reformvorschlägen. Und das Unterrichtsministerium? Dies sei geradezu Hohn! – sagte Herr Öhl. Vor fünf Jahren, als die obligatorische Einführung des Stenographieunterrichts an den Mittelschulen beschlossen worden sei, wurde vom Unterrichtsministerium eine Enquete zur Beratung des zu erwählenden Systems eingesetzt, und natürlich befanden sich in dieser Enquete die Vertreter der Handelsschulen, des Kaufmannsstandes, der Parlamentsstenographen, die mit den Zeitungsberichterstattern verwachsen sind, und sonst niemand! Es sei klar, daß das System Vogelbauch zur Annahme gelangen solle. Der Stenographieverein Öhl habe vor diesem Verbrechen an kostbarem Volksgut gewarnt und dagegen protestiert! Aber seine Vertreter würden im Ministerium nicht einmal mehr empfangen!
Solche Fälle meldete Ulrich Sr. Erlaucht. »Öhl?« fragte Graf Leinsdorf. »Und Beamter ist er?« Se. Erlaucht rieb sich lange die Nase, aber kam zu keinem Entschluß. »Vielleicht sollten Sie mit seinem vorgesetzten Hofrat sprechen, ob etwas an ihm ist…?« meinte er nach einer Weile, aber er war in schöpferischer Laune und widerrief es wieder. »Nein, wissen Sie was, wir wollen lieber einen Akt machen; sollen sie sich äußern!« Und er fügte etwas Vertrauliches hinzu, das dem andern Einblick gewähren sollte. »Man kann ja bei allen diesen Sachen nicht wissen,« sagte er »ob sie Unsinn sind. Aber sehen Sie, Doktor, etwas Wichtiges entsteht regelmäßig gerade daraus, daß man es wichtig nimmt! Ich seh das wieder an dem Dr. Arnheim, dem die Zeitungen nachlaufen. Die Zeitungen könnten ja auch etwas anderes tun. Aber wenn sie das tun, dann wird der Dr. Arnheim eben wichtig. Sie sagen, der Öhl hat einen Verein? Das beweist natürlich auch nichts. Aber andrerseits, wie gesagt, man soll modern denken; und wenn viele Leute für etwas sind, kann man schon ziemlich sicher sein, daß etwas daraus wird!«
Zur Kurzschrift vgl. weiters:
☞ Vismann / qpn / Action writing (Revolutionstechnik Protokoll)
☞ Dracula vs. Mina Harkers Medienfertigkeiten