Nicht die im Habsburger-Österreich seit Friedrich III. zur Frühen Neuzeit hin etablierte Herrschaftssignatur (für die wahrscheinlich präziseste Aufschlüsselung s. Konstantin Moritz Langmaier: Zur Devise Kaiser Friedrichs III. [1415–1493]. [.pdf] In: Zeitschrift desHistorischen Vereins für Steiermark, Bd. 113 [2022], S. 7–32) ist das Thema. (Allerdings, dies vorweggenommen, ließe sich hierzu im nachstehenden Zusammenhang durchaus mit Gewinn referenzieren; nur ein Hinweis von etwa einem halben Dutzend möglicher: so wie Friedrich III. hier zwecks Legitimation seiner selbst einen religiösen Kontext in s/einen Machtraum fügt, so hatten die Vokale und die Hexameter neben nautischer Kommunikation sehr wahrscheinlich eine wesentliche, religiöse Funktion bei den Orakeln. Vokalreligion = Two in one.)
Früher und mehr (also): Theweleits a-e-i-o-u (Klaus Theweleit: a-e-i-o-u. Die Erfindung des Vokalalphabets auf See, die Entstehung des Unterbewussten und der Blues. Wellenroman. Berlin: Matthes & Seitz 2023) stellt in offenem Widerspruch zur Kittler-Ernst-These von der Erfindung des Vokalalphabets durch einen »Homer« et al. auf die Erfindung des Vokalalphabets durch Seefahrer und -räuber ab. Was neben anderem daran interessiert: der Zusammenhang von Verwaltungsschrift und Macht.
Ist die Linear B noch die Schriftform einer Verwaltung, die samt ihrer Herrschaftskultur untergehen wird, während der Hexameter und die für die Kommunikation auf Hoher See unerlässlichen (weil verstehbaren; man lese Melvilles Moby-Dick, wenn die Zurufe vokalreich erfolgen, um verständlich zu sein) Vokale übers Meer fahren, gerät hier doch einiges mehr in Bewegung. Mit einer Linienführung von Ost nach West schreibt sich Schriftkultur ein und wird entwickelt, mit einer diese Entwicklung kreuzenden Fahrt von Nord nach Süd und zurück kommt die Kulturtechnik der Verwaltung in den sich daraufhin etablierenden Machtbereich eines Griechenland und seiner Olympier:innen. Hier, mit Theweleits Zusammenfassungen und Fortführungen, Ausbuchstabierungen seiner POCAHONTAS-Bände II und III, geht es um den unauflösbaren Zusammenhang von Schriftführung und Machtpflege. (Je besser es verwalten und auf Basis einschlägig angelegter Textelemente Rechtsentscheidungen treffen lässt, desto stabiler erweist sich ein Regime: Shock and Awe? – AEIOU!)
Theweleit setzt im hier eingebrachten Zitationsreigen mit einem ›Wort‹ von Joachim Latacz (einem seiner wichtigsten Gewährsmänner) ein:
In dieser zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends begannen die Zentren zu expandieren. Eindrücklichstes Beispiel für diesen Drang nach außen, der besonders auf den südlichen und östlichen Mittelmeerraum abzielte, ist die Eroberung des Hauptpalastes von Kreta, Knossos, im 15. Jahrhundert. Ein solches Unternehmen war nur mit einer starken Flotte möglich, denn das Reich von Kreta, das wir nach Minos, seinem sagenhaften Gründer, »minoisch« nennen, besaß zu dieser Zeit die Seeherrschaft im Mittelmeer. Es ist bis heute nicht geklärt, wie der griechische Ausgriff nach Kreta im Einzelnen verlief, vor allem, ob er eine Einzeltat nur einer der griechischen Palastherrschaften war oder ein Gemeinschaftsunternehmen mehrerer Paläste, womöglich unter Führung von Mykene. (Joachim Latacz: Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels. München: Piper 2003, S. 177)
Wäre das so gewesen, dann wäre die Eroberung Kretas ein Vorläufer des »Modells Troia«, wohin um –1250 die vereinte Flotte der gesamten Palastkultur aufbrechen wird. Wir wissen über die Eroberung Kretas nichts Genaues, eben weil es ein entsprechendes Epos, eine »Kretiade« aus der Hand Homers oder eines anderen Sängers nicht gibt, was dafürsprechen könnte, dass die Eroberung von Knossos kein gesamt-mykenisches Unternehmen war. Den Sieg über Troia aber besangen, soweit wir wissen, mehr oder weniger allepostmykenischen Griechen; und zwar über einen Zeitraum von mehr als 400 Jahren. Latacz: (Theweleit 2023, S. 26)
Eine bedeutende Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Schrift. Bis zur Eroberung von Knossos hatten die mykenischen Griechen – so ist/war der Wissensstand – keine eigene Schrift besessen; ihre Kultur war schriftlos. Die Eroberung verschaffte ihnen nun auch dieses Kulturgut: Sie übernahmen von den Kretern, die nicht griechisch sprachen, die dort gebräuchliche Silbenschrift – das sog. Linear A, das bis heute nicht entschlüsselt ist – und schrieben damit ihre eigene Sprache, das Griechische. Wir nennen diese Schrift, die 1952 entschlüsselt werden konnte, Linear B. (Latacz 2003, S. 178)*
* Heute schlägt man Kreta umstandslos Griechenland zu. Historisch ist das Unsinn. Die minoisch-kretische Kultur hatte mit Griechenland, griechischer Sprache und Lebensweise bis zur Eroberung Kretas durch eine mykenisch-griechische Flotte nichts zu tun.
Dass das Linear B tatsächlich die allgemeine Schrift des Griechischen wurde in den Jahrhunderten nach –1600, ist ein Hinweis auf den relativ engen Zusammenhalt der verschiedenen mykenischen Paläste. Und wirft die Frage auf, warum Homer die Ilias nicht in Linear B aufgeschrieben hat.
Antwort: Es gibt überhaupt keine Literatur in Linear B, so Latacz. Tausende von Tontäfelchen mit Linear B, die ausgegraben wurden, (Theweleit 2023, S. 27)
erwiesen sich im Wesentlichen als das, was wir mit Karteikarten bezeichnen würden: lange Listen von Gegenständen und Personen, Inventare, Im- und Exportkataloge, Kataster und dergleichen mehr. Es sind Zeugnisse für eine unerhörte Freude an Verwaltungseffizienz. (…) Mehr aber leider nicht. »Leider«, weil die Literaturfreunde unter uns auf Literarisches gehofft hatten, Dichtung vielleicht, religiöses Schrifttum, Prosa. Zutage trat von solchen Dingen nichts. Erklärungen dafür gibt es genug, unter anderem den Hinweis auf die hohe Kompliziertheit dieser Schrift mit ihren rund 90 unterschiedlichen Zeichen, deren Zahl und graphische Komplexität die schnelle Niederschrift von sprachlich anspruchsvollen Texten zweifellos erschwerte.* (Latacz 2003, S. 178 f.)
* Die Gründe könnten aber auch parallel zu denen liegen, die die spanische Bürokratie nach 1500 zum Aufschreiben aller amerikanischen Angelegenheiten bringt: Drang zur Inventarisierung der Weltvorgänge, Handels- und Herrschaftsvorgänge; die »Literaturen« folgen später.
Die Zerstörung der Paläste bedeutete die Stilllegung der organisatorischen Schaltzentralen. Da die Verwaltungs- und Lenkungsmechanismen auf Schrift basierten,* das heißt auf schriftlich fixierten Registraturen und Einwohnerzahlen, Vieh- und Materialbeständen, Besitzverteilungen, Leitungshierarchien, Abgabeordnungen und -pflichten und so fort, war die Verbrennung der Paläste und damit der Archive (die als ungewollten Nebeneffekt die Härtung der Tontäfelchen bewirkte und damit den Vorzerstörungszustand konservierte und für uns rekonstruierbar machte) gleichbedeutend mit dem Zusammenbruch des gesamten Systems. Die Oberschicht, soweit sie nicht in Abwehrkämpfen umgekommen war, ergriff größtenteils die Flucht in abgelegene Gebiete und auf die Inseln, insbesondere Kypros (Zypern).**/*** (Theweleit 2023, S. 31)
* Heißt: auf Linear B natürlich.
** »Das organisierte Königtum mit seinem Amtsapparat und dessen Werkzeug, der Schrift, war wie vom Erdboden verschluckt. Nur der Titel des königlichen Verwalters und Untergebenen, basileus, überlebte in sehr verändertem Sinn für den Lokaladel, der zweifellos die (leiblichen oder sozialen) Nachkommen dieser Schicht verkörperte. Diese konkurrierenden regionalen basileis waren es, die Homer als ›Könige‹ ihrer Städte und Inseln betrachtete, basileus hieß ein Thrakerfürst ebenso wie der König von Makedonien, und selbst für den persischen Großkönig sollte man später keinen anderen Titel verfügbar haben.« (Jörg Fündling: Die Welt Homers. Darmstadt: Primus 2006, S. 83)
*** Deutet die Tatsache, dass wir die Täfelchen nur unter den Resten der Paläste haben und nirgendwo sonst, vielleicht darauf hin, dass »man« diese Täfelchen vernichten wollte? Als die Eroberer, wenn wir solche unterstellen, die Paläste verbrannten und mit ihnen die umfangreichen bürokratischen Archive in Linear B, wollten sie doch gewiss auch diese Archive zerstören – ohne zu ahnen, dass das Feuer, das sie legten, sie gerade erhalten würden, indem sie die Tontäfelchen für die Ewigkeit brannten. Legt die Tatsache, dass wir keine anderen haben, nicht den Gedanken nahe, dass man sie loswerden wollte; dass man sie möglicherweise verbot als Teufelszeug und sie da, wo man auf sie traf, zerstörte und ihre Schreiber mit ihnen?
Hypothese: Die mykenischen Paläste wären von Leuten eingenommen und zerstört worden, die die Praxis des Aufschreibens in Linear B ablehnten und unter Strafe stellten. Das könnten mykenische Bevölkerungsteile gewesen sein, die selbst von der Schrift ausgeschlossen waren – die eigene Unterschicht (= Bürgerkriegsthese); oder »Barbaren«[.] (Theweleit 2023, S. 205)
Bloß eben die schon genannten Resultate stehen deutlich da: Die Kultur der bürokratischen Handelsstaaten mit ihrer peniblen Buchführung in der kretischen Linear-B-Schrift ist [»um –1600«; Anm.] komplett zusammengebrochen. (Theweleit 2023, S. 37)
Durch »Homers« Aufschreiben der Gesänge der Ilias und der Odyssee und durch die zustimmende Aufnahme ihrer spezifischen Vokallösungen durch eine Mehrheit der mitbeteiligten Gruppen von Troia-Sängern konnte erst in einem weiteren Schritt das griechische Vokalalphabet als eine Art Gesetzesvorgabe in Kraft treten: nämlich aus einem zunächst semi-defensiven Selbstdefinitionsgerät mutieren zu einer offenen Kulturwaffe; als überlegener Aufzeichnungsspeicher und supranationales Kommunikations- und Zeichensystem, Handelsregulierung, Buchstaben / Zahlen-Koppelung, Geometrie, Navigation, Mathematik/Musik;* womit es im Lauf der folgenden Jahrhunderte den Mittelmeerraum zum Hellenismus kolonisieren konnte.
Die hexametrischen Gesänge an Bord der kolonisierenden Schiffe auf der Suche nach zeitgemäßem Verhalten (= Neuland) waren dann funktionell so etwas wie die Bordschreiber, die, 2500 Jahre später, alle spanischen Schiffe mitführen mussten ab 1502 auf ihren Fahrten über den Atlantik nach America Sud; um dann Report abzulegen beim »piloto mayor« in Sevilla oder Cadiz. Dieser war kein Geringerer als Amerigo Vespucci, der die Regeln für die Arbeit dieser Bordschreiber aufstellte, deren Einhaltung überwachte und die Ergebnisse einsammelte von jedem aus überseeischen Unternehmungen zurückkehrenden spanischen Schiff.** Alle spanischen Kapitäne waren seit 1503 verpflichtet, Leute an Bord zu haben, die des Lesens, Schreibens und Kartografierens kundig waren. (Theweleit 2023, S. 106f.)
* [Friedrich Kittler: Musik und Mathematik, Bd. 1: Hellas, Teil 1: Aphrodite. München: Fink 2006, S. 213ff.]
** Verwiesen wird notwendigerweise auf Bernhard Siegert. S. ausführlich zitiert unter Casa de la Contrataciòn
Segmentierung und Sequenzierung als die grundlegenden technologischen Verfahren des Wirklichkeitsaufbaus der eurasischen Menschen des Neolithikums, von der Haustierzucht über den Ackerbau, den Gräberbau, über die Metallgussverfahren und die Seefahrt finden im Vokalalphabet der Griechen zweierlei: einmal den Endpunkt einer langen Entwicklung von Materialzerlegung und Neuzusammenfügung der vorgefundenen Elemente der Erde wie auch eine Art Neubegründung dessen, was Menschen diesem »Vorgefundenen« hinzufügen seitdem: »Atomisierung plus Neuverschaltung von everything«. Seit ca. –10 000 entwirft sich die Menschheit des vorderorientalisch-griechischen Raums derart in einer Serie künstlicher(technologischer wie künstlerischer wie soziologischer) Prozesse immer neu zu immer eingreifenderen Formen der Naturumwandlung bzw. -verwandlung bzw. ihrer Zerstörung.
Eine besonders eindrückliche Komplettierung dieser Beobachtung liefert Gerald Wildgruber in seinem Text über die Menschen als die Spezies der »Lautstromabteiler«. Die Grundform, nach der »das frühgriechische Denken die Techniken und Leistungen der Kultur bedenkt, ist die Zweiung, die Trennung, anders gesagt die Tätigkeit des Scheidens«, befindet Wildgruber.* (Theweleit 2023, S. 112)
* Gerald Wildgruber: Das Geschlecht der Lautstromabteiler, oder: Was es heißt, die eigene Stimme zu analysieren. In: Friedrich Kittler, Wolfgang Ernst (Hg.): Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift, Zahl und Ton im Medienverbund. München: Fink 2006, S. 171–198.
[Dieses Scheiden] ereignet sich ursprünglich begründend, nämlich methodologisch relevant für alle nachfolgende Wissenschaft, in der irrealisierenden und im selben Zuge produktiven Erfindung des griechischen Vokalalphabets, das der Form nach nichts anderes ist, als die Auseinanderlegung und Arretierung des in Zusammenhang und Verhallen lebenden Stroms der gesprochenen Rede, als die radikale Isolation des Phonems und seiner Fixierung durch Sichtmarken. (Wildgruber 2006, S. 174)
Das strukturell Neue am Vokalalphabet sind für Wildgruber eben diese Möglichkeiten der Methodologie der Segmentierungsverfahren. Zu deren genaueren theoretischen Erfassung verhilft ihm ein kühner Sprung in einen Text des Grammatikers Hesychios aus Alexandria (»Datierung ungewiß, 5. oder 6. Jh. n. Chr.«). Da gibt es ein spezielles Zauberwort: »Meropen«. Meropen, das in neugriechischen Texten für »Menschen« steht, hätte, so Wildgruber, früher etwas anderes, Konkreteres an diesen Menschen bezeichnet. »Definition« des Menschen laut Hesychios: »der Mensch legt seine Stimme in die Seinsweise abgesonderter isolierter Elemente auseinander.« (Theweleit 2023, S. 113)
Der Gott Apoll ist nirgendwo im griechischen Raum »geboren«, ebenso wenig wie die Götterkollegen Zeus und Poseidon. Sie alle kamen um –2000 mit den indogermanischen Einwanderern in die (noch nicht so heißenden) »griechischen« Gefilde, wie die Linear-B-Täfelchen der verbrannten mykenischen Paläste zweifelsfrei belegen: »Auf den Linear-B-Täfelchen erscheinen die Götternamen Zeus, Hera, Athene, Artemis, Poseidon, Hermes und auch Dionysos. Diese Götter sind also bei den Griechen älter als die Täfelchen und zweitens bis zu Homer gleich geblieben.« (Latacz 2003, S. 277) (Theweleit 2023, S. 117)