Von Akten

Entwurf einer Einleitung, die ihr Ende schon in sich trägt. Und umgekehrt. (Danton Tod ist Kafkas Ende: »Im Namen der Republik!“)

Soll man mir nachsagen dürfen, dass ich am Anfang des Processes ihn beenden und jetzt an seinem Ende ihn wieder beginnen will. Ich will nicht, dass man das sagt.

Kafka, August 1914 [☞ 1]

Das Recht wird gesetzt, seine Verwaltung sortiert; deren mögliche Abläufe werden designiert, Ablagen all dessen eingerichtet. Im Anfang wird dabei stets eine Vor-Schrift gewesen sein, beispielsweise: »Die formale Behandlung der von den Bundesministerien zu besorgenden Geschäfte ist von der Bundesregierung in einer für alle Bundesministerien einheitlichen Kanzleiordnung festzulegen.« (Bundesgesetzblatt 1973, § 12) Derart steht die Rechtmäßigkeit der Kanzleiordnung bereits vor ihrer Verordnung fest. Eine Kanzleiordnung, auch »Amtsinstruction« oder »Büroordnung« geheißen, brauchen Verwaltung, um recht (auch: Recht) zu haben, wenn sie je einmalige Vorgänge mit Grund- und Geschäftszahlen generieren, Entscheidungen triggern, Transparenz zumindest als Anspruch gewährleisten und schließlich die Verwahrung des jeweiligen Vorgangs nebst seiner Wiederaufrufbarkeit sicherstellen. Die Akte der Erzeugung, des Prozesses, einer Bestimmung und der Abarbeitung an den Zumutungen der Kontingenz – zu verstehen als Möglichkeit oder Ermöglichung, nie jedoch als ›Zufall‹ –, schließlich der Sicherung des Ergebnisses (eine verwaltungstechnisch korrekte Archivierung bedeutet die Ermöglichung des Wiederaufrufs, eines Revenants von Votum-Sachverhalt-Beweisführung), all dies und mehr Kulturtechniken einer Verwaltung, bedienen sich dabei eines Mittels: der Akten. [☞ 2]

Dieses robuste Werkzeug ist stets erheblich mehr als ein Medienträger oder gar -Container. Es ermöglicht im weiten Feld der Umstände, Dinge und Vorfälle eines je konkret gewordenen Falls zu segmentieren, zu sequenzieren und zu selektieren, im angestoßenen Prozess Differenzierungen als evident zu identifizieren und über die Zuerkennung als relevante derart zu operationalisieren, dass die Beobachtungen zweiter Ordnung Entscheidungen ermöglichen, d.h. sichern.Im »Kampf gegen Entropie« (wie Siegert 2003, 73 die Rede von der »Aktenarbeit« zuspitzt) wird ein Apparat amtlich mobil gemacht, und die Kanzleiordnungen lesen sich wie Manuale des Aktengeschäfts, ohne dass sie definieren müssen, was ein »Akt« sei. Berücksichtigend die je gültige Verordnung ergibt sich ein Akt, die Akte, aus der Befolgung der Instruktionen, wie dieses Ding zu manipulieren sei. Dass sich das alles in Teilen oder auch als Ganzes um- und beschreiben ließ und lässt, gilt jedoch nur für ›Papierakten‹. Mit Einführung der Elektronischen Akten und der sich damit einstellenden neuen medialen Eigendynamiken sind sowohl die Vorstellungen davon, was Akten sind, als auch welche Regeln dafür gelten – mit anderen Worten die Darstellbarkeit und Gewährleistung administrativer Arbeit –, einem erheblichen Problem ausgesetzt. An dieses zumindest ansatzweise heranzuführen und bis zu diesem Punkt (wenn es denn einer ist) die komplexe Rede von Akten zu ermöglichen, will der Beitrag u.a. mit Bezügen auf Amtsinstructionen bzw. Kanzlei- und Büroordnungen, mit Hinweisen auf Franz Kafkas Process und Bram Stokers Dracula sowie manchen Verweisen auf angewandte ›Bürotechnik‹ [☞ 3] zweckdienlich sein. Es wird also u.a. darum gehen, wo ein Akt beginnen, wo er enden, was in einen Akt hineinkommen kann, welche Rechtsgrundlagen er hat. Die Frage nach Ablage, Archivierung und Wiederaufruf – das »Weltgesetz« des Aktes – zu bestimmen, wird in der Folge mit Hilfe Robert Musils unternommen. Was die Akte/n ist/sind – allein um jene einer Verwaltung, eines öffentlichen Dienstes kann es gehen –, ist formal Vor dem Gesetz geklärt, funktional jedoch nur über Bezüge und Einbindungen zu erklären (bis hin zum kurzen Amtsweg als Informel des Bureaus). Insofern spielen nicht allein Prozesse und Regeln eine Rolle (sondern auch die Unverträglichkeit von Faltung [☞ 4] und Stanzung) und geht es um ein wechselseitiges Bedingungs- und Einfluss-, letztlich: zu mobilisierendes Prägungsgefüge.


☞ 1 // Kafka 2017, H. Ende, 14. Franz Kafka wendet bei der Schreibarbeit am Process-Roman eine verwaltungstechnisch bewährte Vorgehensweise an. Das erste und das letzte Kapitel werden mehr oder weniger als erste verfasst (etwa im August 1914), wodurch Anfang und Ende des Vorhabens vorgegeben sind; die während der Abfassung in den jeweiligen Heften entstehenden Texte werden zwischen diese beiden Kapitel »Verhaftung« und »Ende«, die wie die Deckel einer Aktenmappe funktionieren (sollen), eingelegt. Eine inhaltliche Schleife wie die obzitierte ist selbstverständlich eine komplexe und mehrdeutige. (Und man muss dafür gar nicht an James Joyce’ Finnegans Wake denken, den sozusagen ersten mit dem sozusagen letzten Satz zusammen zu lesen versuchen.) Bezeichnet wird damit die Selbstironie des Schreibenden betr. die Anlage seines Projekts; bezeichnet wird damit das für einen Verwaltungsjuristen selbstverständliche Weltgesetz von Akten (was sich mit einem Beispiel Musils zeigen lassen wird und nicht einfach die Möglichkeit der Wiedervorlage meint); bezeichnet wird damit schließlich auch das Vorhaben, dass kein:e Leser:in merke, dass er eben das »Ende« schreibt, um danach bei der »Verhaftung« fortzusetzen, die zum »Ende« führen wird, in das dieser Satz eingeschrieben sein wird, der wiederum … das mag schon interessant sein, spannend ist es vor allem auch dahingehend, dass hier bereits mit angelegt ist, dass wenn der Verfasser wieder bei diesen Zeilen angelangt sein wird, dann: lesend, das Projekt respektive der Akt (um eine noch offene Zahl an Kapiteln, jedenfalls:) erheblich angeschwollen sein (soll) und – das ist die zusätzlich eingeschriebene Hoffnung – genug Beweiskraft erlangt haben wird, dass Der Process an ein Ende kommen kann. (Mit Latour 2016 formuliert soll wie bei den Entscheidungsprozessen im Conseil d’Etat das Vorhaben, das ich den Akt nenne, um auf die eingeschalteten Beobachtungsebenen und -techniken zweiter Ordnung zu verweisen, dadurch entscheidungsreif werden, dass die in Heften beschrifteten und aus diesen heraus [über-] geordnet aneinander- und in eins zusammengefügten Seiten im Zuge dieses Aktenlaufs – und durchaus im Wortsinn – ›Gewicht‹ bekommen haben werden.) NB: Kafkas Aktenlauf Process (ein evidenzbasiertes Schreiben und Fügen) findet zwischen den europäischen Kriegserklärungen und dem Jänner 1915 statt; bis dahin war die k.u.k. Berufsarmee wesentlich vernichtet, die für tauglich und abkömmlich erkannten, mobil und einrückend gemachten Reservisten mussten ran, Stammakten werdend für die Kriegsarchive, von Bescheiden verständigt, durch Verordnungen an die Front expediert. Die Züge von dort zurück an die Heimatfront waren nicht leer, Kriegsversehrte und Schwerverletzte, Jüdinnen und Juden auf der Flucht vor Pogromen, Kriegsvertriebene und Traumatisierte zeugten bereits im Herbst 1914 davon, dass es nur auf schreckliche Weise vorbeigewesen sein würde.

☞ 2 // Wenn hier und in der Folge zumindest gelegentlich Unsicherheiten aufkommen sollten hinsichtlich der Entscheidungsfähigkeit des Verf., in Sachen Akt/e/n korrekt Singular und Plural anzuwenden, ist ein Ziel der Übung erreicht; ein Akt muss hohe Anschlussfähigkeit aufweisen und zugleich seinen je eigenen Gegenstand zu verhandeln helfen, der je individuelle Verwaltungsvorgang samt Entscheidungsfindung muss (Rechtsprechung schätzt Vergleichbarkeit) in einer Reihe mit all den anderen, gleichzulagernden, zu finden sein.

☞ 3 // Bürotechnik ist kein Verbrechen. Für den Blick auf die einschlägige Wortspielhölle sorgte Walter E. Richartz, der in eine Ausgabe seines Büroromans (EA 1976) die Widmung schrieb: »Der Büroroman vom Pyromanen«. (Der Verf. wurde dieser Widmung nur ansichtig, ohne aber das Exemplar sich aneignen zu können.)

☞ 4 // Der Begriff der Faltung bzw. Falte – und die Berücksichtigung des Verweises von Deleuze 2023, dass auf Leibniz und die geistige wie technische Gemengelage des Barocks sich einzulassen an sich föderlich sei – wird im vorliegenden Zusammenhang und an dieser Stelle notiert, damit er zur Verfügung stünde, wenn mit bedacht werden sollte, dass wesentliche Mittel und Verfahren europäischer Verwaltungen aus diesen solcherart wie mit einer Grundzahl (Staatstafeln 01) bezeichneten eineinhalb Jahrhunderten (zumindest № 17, 18) herrühren. Dann würde auch einzuwerfen sein, dass den Faltungen stets der Versuch sie zu entfalten und zu endigen entgegengesetzt wird, so aporetisch dieser auch sein mag. Ämter wollen eben ebenso einfalten, involvieren wie ausfalten, ausrechnen, festschreiben, einordnen – ausverhandeln; damit sind sie Teil der diplomatischen Objekte (Polobjekte, Paradoxien). Die Aktenzeichen lassen sich wiederum als Versuch lesen, in dieser paradoxen Kartografie denkbaren Handelns Koordinaten aufzuzeichnen; sie wurden samt ihren bezeichneten ›Objekten‹ im Jahrhundert № 20 auf den Weg in № 21 gebracht, in 01 linearisiert. (Fluide festgeschrieben, auslesbar verschwindend.) Anders formuliert: Der Akt und die Akte und die Akten haben zurzeit ein erhebliches Problem (und, wenn die Einschätzung zutrifft, dafür danach nie wieder eins). Bureau und Labor (Latours), Büro und Amt sind, einschließlich ihres wesentlichen Bordmittels AKT, gerade dabei, den letzten Absatz von Foucaults Ordnung der Dinge (was der nie gedacht hätte: der Elektronische Akt wird es möglich gemacht haben) unwiderruflich hinter sich zu lassen.