Stanzungen

Die Bürokratie (Bureau–cracy) ist die Meisterin der Kleinen Formen (in ihrer systemrelevanten Programmatik der Gewissheit des Futur II verpflichtet und telegrammatisch angelegt auf rhetorische Figuren wie das Hysteron Proteron). Epos und Roman wurden unter Fiktionsverdacht gestellt und sind für einen das Monopol für die Faktenlage reklamierenden Verwaltungsapparat zudem auch unhandliche Textsorten. Formulare, Protokolle, Berichte, Tabellen und Listen, Einsichtsbemerkungen, Notizen, Briefe, Anträge, Bescheide, Erlässe, Urteilsbegründungen (und die techné ihres Schwebezustands), Observanzen, Dienstanweisungen, Duplikate, §§ &c. – allesamt spezifisch funktional, gleichsam algorithmisch einsetzbar – sind die wesentlichen Schreibformen, nicht wenige haben einen Grenzobjekt-Charakter, ihr Geschäftsgang ist ein Aktenlauf und der Akt (die Akte) selbst ihr Medien-Container; ein Medienverbund avant la lettre (d.h. noch bevor der Strom in die Dinge fährt), in den Dienst wider die Kontinenz gestellt.

Spezifische Verfahrensregeln und hierarchisch geordnete Bearbeitungsstufen versetzen die SachbearbeiterInnen in die Lage, nahezu jedwede mediale Erscheinungsform zu bewältigen. Gleichzeitig sorgen die Normierungen, die Standardisierungen der Formen und Formate, für eine Optimierung der notwendigen Erfassung von Daten, Abläufen mit dem papierweißen Arm der Verwaltung. Dafür soll der aus dem Analogen rührende Begriff der Stanzungen eingesetzt werden.
Zum einen sichert er die Gewärtigung der Frage nach der Materialität der unterschiedlichen Vorgänge, zum anderen bleibt er bis in die digitalen Verarbeitungsprozesse hinein greifbar; die ›Stanzung‹ hält sich nicht mit der Oberfläche auf, sie durchstößt diese und durchdringt das Objekt und das Papier gleichermaßen. (Und man muss schon einen ausgesprochen planen Begriff von der Elektrifizierung und schließlich Digitalisierung der Zeichen und Dinge haben, um nicht mit in Rechnung zu stellen, dass es dabei stets um wesentliche Einfluss nehmende Vorgänge geht, die bis in die Körperfunktionen, Kulturtechniken, damit in die individuelle neuronalen Verfasstheiten hinein Auswirkungen haben.)
Nicht mehr die Zuschreibung allein entscheidet über die Zuordnung und Ablage, sondern ganz wesentlich setzt die normierte, systematisierte Lochung den Ausgangspunkt für Ablage und Prozessvorgabe. »Les mots et les choses« erfahren – wenn nicht im Rahmen der Formengesetze ohnehin prästabiliert, so innerhalb des Amtes und seiner Verfahrensweisen stabilisier- und letztlich ablegbar – ihre Ordnung.  Stanzungen steht für Normierungen, Formatierungen, Zuschneidungen, Bemessungsgrundlagen, Begrenzungen, institutionalisierte Lückentexte, Segmentierungsverfahren, Konzeptualisierungen und die Entwicklung von Sequenzierungen & Serienmustern. Somit ist es auch eine Frage der Pattern Recognition. (Sowohl der Musterprägung, als auch deren Erkennung.)

Die spezifische Praxeologie der Verwaltung in einem je hergestellten rechtlichen Rahmen (auch das eine der ›Stanzungen‹) – Letzteres die Aufgabe der Juristerey und ihrer Politik –, ihre Kulturtechniken und die Durchsetzung medialer Verfahren, die Formatierung und damit Beherrschung der Schreibflächen zu verstehen lässt sich vielleicht nur mehr mittels einer Kulturtechnikforschung durcharbeiten, die den Anspruch stellt, »vor die Reifizierung von Apparaten und Substantiven zurückzugreifen, um einen Zugriff auf die Verben und Operationen zu ermöglichen, aus denen die Substantive und Artefakte erst hervorgegangen sind.« [☞ 1] Das lässt sich an jenen Ansatz binden, wie er (ho.) für die Aufarbeitung des k.u.k. Kriegspressequartiers (KPQ) und seine Medien zur Anwendung gelangte. (Deren Medienverbund ist ein administrativ-organisatorischer, realiter beginnt er erst ab der Zwischenkriegszeit sich auszuweiten und elektronisch verschaltet zu sein; um die Effekte und Eigendynamiken zu verstehen, bedarf es dieses Schritts zurück, braucht es 1914 und davor.)

Derartige Techniken scheinen den Objekten ihres Zugriffs vorauszugehen, deren amtliches Apriori zu sein; dabei bringt diese amtliche Verschränkung aus medialem Verbund und Verwaltungstechnik (nicht zu vergessen: die 1, 2, 3, 4, 5 Funktionsgebäude und die architektonische Diagrammatik der Verfügungsmacht, die auch an den »Orten der Indirekten« [☞ 2] sich sozusagen dienenden Schritts um Schritts ablesen lässt) die Objekte ihrer Arbeits- und Archivierungsvorgänge erst hervor. Wie dies vor sich geht, welche Mechanismen, Scharniere und Schnittstellen genützt werden und durchaus je eigengesetzliche Wirkung mit ausüben, welche Bedeutung die Funktion der Entscheidung hat, wie das Ge-Stell (stanzend wie in der Strafkolonie? [☞ 3) der bürokratischen Medien beschaffen ist, weshalb der Bezeugungsakt der Akten durch sich selbst in Form einer rekursiven Grammatologie [☞ 4] – als »Weltgesetz der Bürokratie« [☞ 5] – Durchsetzungsrechte hat, welche Wirkung die über Normengesetze und Kanzlei- nebst Wirtschaftsordnungen vorgestanzten Kleinen Formen in ihrem Verhältnis zueinander haben: dies alles zusammen gibt dem Apparat quasi die Funktion eines ubiquitären protokollons (und doch auch Gedanken zu verbergen).

Dieses komplexe, vorgeschaltete Protokoll ist hier im etymologischen Sinn zu verstehen – das πρωτόκολλον war ein den bürokratischen Darstellungen und Ausführungen vorgelagertes (den amtlichen Schriftrollen vorgeleimtes und diese beglaubigendes) Blatt mit kurzen, sachbezogenen Daten und Angaben, die dadurch Gültigkeit zusprachen und verschafften. Bis heute schwingt auch noch jene Bedeutung von Protokoll mit, wie sie barocken Frontispizen den Lesenden mitgaben, während es in unseren Tagen vor allem als Übersetzung unterschiedlicher Medienkanäle in einer Schrift, die auf Entscheidung abgestellt ist, verstanden wird; es sei »aufgeschriebenes Geschehen und Prozesshandlung. […] Protokolle werden zu Akten.« [☞ 6] D.h., dass die Inbetriebnahme dieses Begriffs vom πρωτόκολλον auch im Sinne eines späteren (tendenziell nunmehrigen) Verständnisses von der Niederschrift eines Verlaufs und dessen Aktanten zu verstehen ist. 

Zeichenapparate und Trägersysteme entstanden und entwickelten sich aus den eurasischen frühen Kulturen – vom Zweistromland über die schriftliche Lautstromabteilung [☞ 7] des Vokalalphabets und die Rasterung der Eigentümer und Ordnungen der Matrizen, als es galt, Besitzverhältnisse zu regeln, Dinge und Menschen zu zählen, in eine Ordnung zu bringen. Seit das Segmentieren, Konzeptualisieren, Sequenzieren sich als Grundlagen des Verwaltungs- und damit Herrschafts- weil Besitzhandelns herausbildeten und durchsetzungsfähiger, [☞ 8] anders gesagt aus Stanzungs- und Festsetzungs-Verfahren abgeleitete Modelle der Rasterung und Serienschaltung anschlussreifer sich erwiesen als allfällige Konkurrenzmodelle, läuft der Apparat an sich rund. (Dass es integrativ auch den Störfall gibt, die sozusagen systematische Dysfunktionalität, zeigen in der Literatur – »Leitzordnerliteratur« [Th. Bernhard] – Kafka wie Musil, indem sie physikalische, anthropologische, psychologische und juristische Versuchsreihen entwickeln, um eine Phänomenologie des Störfalls herauszuarbeiten – diesen ist entlang organisatorisch vorgesehener Stallungen zu entwickeln respektive nachzuverfolgen.)

An einer wesentlichen Institution der frühen Neuzeit, der zunehmend autoreferenziell operierenden Casa de la Contratación in Sevilla (einschließlich seines Projekts der Verfertigung der Königlichen, der Generalkarte »Padron Real« – erst Jahrhunderte später wird auch die Weltzeit respektive Zentralzeit sich durchsetzen lassen), lässt sich die Folgewirkung der Schubkraft dieser Kulturtechniken und Medien ermessen: »Der Staat ist diesem Apparat nicht äußerlich, der Staat ist Effekt dieses Apparats.« [☞ 9] Dieses administrative System wird umfassend und bis in die Wissenschaften hinein wesentlich, es ist die Grundlage von allem, seine (mobilen) Formen sind die Kleinen und die anzuwendenden Medientechniken die ihren. »Das eigentliche Ereignis der neuzeitlichen Wissenschaften ist […] im Erscheinen solcher unscheinbarer wissensadministrativer Medien zu sehen.« – »Das sind: beschriebene, durchnummerierte, optisch konsistente Papieroberflächen. Im Büro werden sie effektiv skaliert, reproduziert, kombiniert.« [☞ 10]

Der Shannon-Registrator; nach Claude E. Shannon – nicht verwandt – benannt ist wiederum eine Maßeinheit für den Informationsgehalt einer Nachricht, überdies stand dieser Pate für den Shannon-Index und die Shannon-Zerlegung. Stets geht es um Datensenken.

Die Schreibflächen werden wie die Schreibtische [☞ 11] für die jeweiligen medialen Anwendungen zugerichtet, ihre Ablagesysteme werden einschlägig formatiert, die Zulässigkeit der Formate und Informationskanäle bestimmt. Und hier wird das zweite wesentliche Schubmoment zu bestimmen sein, entstehend aus dem, was unter Maria Theresia und Joseph II. ein Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg als Kanzleiordnung auf- und durchsetzt und die heutige Welt auf allen Ebenen durchzieht (und jene aus 1923 schneidet dann das gesamte System auf die DIN aus dem Geist der Kriegswirtschaft, dem schon das 08/15 [☞ 12] entsprang, zu): das amtliche System in seiner Ausrichtung auf Entscheidungen. Das autoreferenzielle System erfährt jene Normungen, der es ab nun nicht mehr entraten wird. Der Aktenlauf, wie angedeutet, wird institutionalisiert und der Weltgeist (wenn schon nicht beatmet, so doch:) beamtet. Seine Ausführenden sind Prothesengötter. (Und noch nicht synthetisch.) Vor dem Gesetz wird nun stets nach dem Process gewesen sein.

Doppelstanzung wie Dracula. Seit 1886.

Über »Stanzungen« zu arbeiten wird eine Vielzahl an normierenden (›stanzenden‹) medialen Erscheinungsformen in die verwaltungstechnischen Ordnungsmuster zu fügen, ein- und mehrfach anschlägig Schreibkommandozeilen zu formulieren haben, darunter gewiss auch (in noch herzustellender Ordnung):
• Die Institutionalisierung der Casa de la Contratación 1503,
• die Mason- & Dixon-Line, die Eisenbahn an die Grenze und das Pochen der Telegraphen,
• Babbage’ Idee einer Rechenmaschine (das Prinzip der Lochkartensteuerung für »Analytical Engine« ~ 1837) und die Arbeit der Ada Lovelace (!) und all der anderen an der Universalsprache,
• Jacquards Webstuhl späterhin das ›Prinzip Nähmaschine‹ (»Was er webt, das weiß kein Weber«, heißt es in Heinrich Heines Bei den Wassern Babels saßen; so wird es jedenfalls am anderen Ende des Jahrhunderts jenen Arbeitern gehen, die Lochkarten für den elektronischen Zensus zurichten, die Grundlage für die Schaffung des statistisch erheblichen wie erhebbaren Durchschnittsmenschen schaffen:),
• Holleriths Lochkarten und US-amerikanische Zensus ebenso wie der österreichische (beide 1890), der mit Heinrich Rauchbergs Kontaktapparat (cf. Kafkas Strafkolonie) elektronisch gestützt wurde,
• Soenneckens Patente der Aktenordner, Papierlocher (beide naturgemäß zusammen erfunden und im selben Jahr 1886 – Thomas Bernhard wird zum 100-Jahr-Jubiläum an den Lizenznehmer Leitz eine Auslöschung adressieren – wie Holleriths Stanzungsprinzip patentiert), Briefordner, Umlegekalender, Ringbuch – und dabei nicht auf seine »Rechenvorrichtung zum Vervielfachen und Teilen«, den Taschenrechneraffen aus 1889 (Patent)/1890ff. (Produktion), vergessen (ext. Links 1 & 2),
• die Rollfilme und Zelluloidstreifen,
• die Disassembly und die Assembly Lines (die Fließbänder Fords und die Taktraten/Traktate des Schnitt- & Stanz-Spezialisten Taylor (On the Art of Cutting Metals, 1906) – Kulturtechniken: segmentieren & sequenzieren – können ihrem ursächlich vernichtenden Zusammenhang niemals entraten),
Schreibmaschinen und Nadeldrucker,
• Lochstreifen der automatischen Klaviere,
• die Siegel, Siglen und Geschäftszahlen und -zeichen nebst einem über Jahrhunderte hinweg entwickelten System der Registratur, Zuweisung, Ablage, Wiederaufrufbarkeit und
• die Herzstiche, um beim Tod auf Nummer sicher zu gehen, und
• die DIN 08/15 (und ihr segensreiches Harken preisend die Büros der Kriegspressequartiere aller Herren Länder) und
•  jene geisterhaft ausgewiesenen Diskursformen berücksichtigen, die von der Eigengesetzlichkeit der Medien handeln, die dann als Rauschen und Raunen, als  Künder des Unaufgelösten auf unerklärbare Weise wieder und wieder über die Zeiten hinweg springend erscheinen,
• die Oberflächen noch der neuen Medienverbünde, die nach dem Process funktioniert haben werden (das Futur als Verwaltung-Tempus, denn es wird je schon vorgestanzt worden sein) und die gar nicht mehr so neue Uneinsehbarkeit perfektionieren.

Das System all dessen, der Zeichen und Aktanten und medialen Verschaltungen, der Ordnung der Schreibflächen und damit dessen, was geschrieben steht, ist das bürokratische. Die Literatur folgt diesem auf den Versfuß, sie richtet sich (zwangsläufig, muss man annehmen) an der amtlichen Spur – den bürokratischen Aufschreibesystemen …– aus und errichtet ihre Indizienparadigmen entlang dieser Kenntlichkeiten. (Und deshalb bedarf sie des Romans und des Epos so sehr, weil sich hier den Stanzungen der Schreibflächen, wenn schon nicht den Formatierungen und dem Satzspiegel, zumindest dem Anschein nach entgehen lässt.) Wenn »Staat« und seinen Institutionen wie Ebenen zu abstrakt ist, lässt sich zur Darstellung in diesem uneigentliche Formen ausweichen und der Blick auf die Medien schärfen: »Stokers Dracula ist gar kein Vampyrroman, sondern das Sachbuch unserer Bürokratisierung.« [☞ 13] Das Bureau ist allgegenwärtig, denn vor der Lochpfeife sind alle Papiere gleich. Denn:

Let’s talk about Sax, Baby!

Es ist nicht die Schreibmaschinentype, die ihre Male wieder und wieder in die Hälse zunehmend erbleichender englischer junger Frauen schlägt, auch wenn Kittler das bei der Abfassung des Vermächtnisses auf einer Schreibmaschine in den kalifornischen 80ern haarscharf übersah [☞ 14], sondern es ist – »Sachbuch unserer Bürokratisierung« – der Locher von Soennecken & später Leitz (Let’s talk about Sax®, Baby!), der die Opfer seiner Registratur von Stanzung zu Stanzung näher zur Ablage bringt. Es ist zudem nur konsequent, dass die Vernichtungsmaschine des Amtsvorstehers Dracula aus alter Zeit herrührt (als man nicht allein mittels Pfählungen seine Herrschaftsansprüche in die Körper einschrieb).

Natürlich gibt es auch eine Geschichte der Bürokratie zu erzählen; genauer: es sind Geschichten. A.a.O. gewiss, hier nur angerissen:

Gegen Ende des 15. Jhdt.s (hier die Natur im »Roman de la Rose«, wenn sie ganz unallegorisch das Menschlein zurechthämmert) wurde dezidierter von Hand geformt und noch nicht gestanzt.

Die mittelhochdeutschen und altfranzösischen Epen kannten noch den Doppelten Kursus, der als sowohl literarisches Unterhaltungs- wie zugleich Erziehungs- und Formungsprogramm für den perfekten Helden – den feudalen Karrieristen, der dem vorgezeichneten Pfad folgt und sich den notwendigen Ordnungen der Symbolketten & Zeichen gegenüber als lernfähig erweist – niedergeschrieben und vorgetragen wurde (Prinzipien der Rekursion und Ablage). Es bricht zur Neuzeit hin jedoch eine Verwaltungsnotwendigkeit sich Bahn, die neuer Wege bedarf. Pfählen half da nur mehr bedingt, als es massenhafter zu verwalten und ordnen galt. Wie schon bei den spanischen Herrschaften wird es im Sinne einer Aufrechterhaltung der Konkurrenzfähigkeit notwendig, vom Präsenz- auf ein Repräsentationsprinzip umzustellen, mittels Dekreten, Verordnungen, Erlässen die Herrschaftsansprüche und Gebahrungsbefehle durchzusetzen. Dafür erweisen sich nicht die Langformen, sondern die Kleinen und kurzen Formen (quasi als Ballistik der Herrschaftsausübung) als probat, sozusagen nicht die Erzählungen, sondern die Befehle. So wie die Schreiben die leibhaftigen Reisebewegungen und Anwesenheit ersetzen, erfährt späterhin auch der Aktenlauf seine Bedeutung in der Beweglichkeit. Es müsste sich skizzieren lassen, dass es eine Vorläufigkeit desselben gibt, die zum einen im Hofzeremoniell der spanisch-habsburgischen Linie zu ersehen ist, das immer weiter sich ausdifferenziert und perfekte Einschulung aller Beteiligten erfordert; dem entsprechen, zum anderen, jene Architektur gewordenen Diagrammatiken der Macht, die eben diese Vorwärtsbewegung bis hin zur finalen Erledigung des Anliegens (Raum um Raum, Höfling um Schwellenwächter um Gesetzeshüter).

Im v.a. 18. Jahrhundert wird die alte stratifizierte Gesellschaft durch drei Faktoren verändert (& man beachte auch die soziale Funktion von Aufklä­rungswissen): 1. Durch gesellschaftliche Nivellierung, 2. das Aufkommen über ihre Funktion  definierter hochqualifizierter Schichten inkl. Qualifikationsdruck, 3. die neue Mobilität, wenn Funktionsträger über Karrieren reproduziert werden müssen, die Arbeit als Wert definiert. Der neue Typus der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist entstanden und das wesentliche Differenzierungskriterium ist die Funktion. Die damit entstehenden Subsysteme und Prozesse haben gemein, dass sie alle über (unterschiedlich legitimierte, jedenfalls in Kraft gesetzte) bürokratische Ordnungssysteme laufen sollen und von deren Medien zu erfassen sind. Das hat Folgen.

Siegert und Theweleit haben einen je eigenen Fokus und inkorporieren diese Umstellungen im 18. Jahrhundert ihren Darstellungen so nicht (das findet sich dann wesentlich bei Luhmann, den natürlich beide kennen); umso deutlicher, mag man versucht sein, diesen Punkt ihren Ausführungen beizufügen, um in Summe die Verwaltung und Bürokratie aus feudalistisch-kolonialistischen Bezügen der frühen Neuzeit herzuleiten und mit der Beobachtung zu vereinbaren, dass das Adelssystem durch aufstrebende Bürgerliche (kontrollierte »Karrieren«) zu ergänzen – späterhin von diesen abzulösen – ist. (Die dann späterhin die Schnittstellen der Guillotine den Markierungslinien der Gebäude Stanzungen des Buches gegenüberstellen.) Den sozialen und räumlichen Ordnungsverfahren fügt dabei eben der sich wechselseitig bedingende Doppelstrang aus Medien- und Kulturtechniken ein (die DNA der Moderne), der – hochgradig re- & produktiv – spezifisch bürokratisch programmiert das zu stanzen, registrieren und abzulegen vermag, der die rote Linie dessen markieren wird, was die moderne Welt letztlich erfasst haben und ausmachen wird.


[1] Schüttpelz, Erhard: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken. In: Lorenz Engell, Bernhard Siegert u. Joseph Vogl (Hg.): Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?). Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 2006, S.87–110, hier S.87. 

[2] Cf. den so betitelten Abschnitt in Krajewski, Markus: Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient. Frankfurt/M.: Fischer 2010, S. 111–127.

[3] Cf. Wolf, Burkhardt: Kafka in Habsburg. Mythen und Effekte der Bürokratie. In: Administory 1 (2018), S. 193–221

[4] Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt/M.: Fischer 2000.

[5] Musil, Robert: Hans Sepps Selbstmord. In: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 6. Hg. v. Walter Fanta. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2018, S. 652–674, insb. 653f.

[6] Vismann, Cornelia: Medien der Rechtsprechung. Hg. v. Alexandra Kemmerer u. Markus Krajewski. Frankfurt/M.: Fischer 2011, S. 98.

[7] Wildgruber, Gerald: Γένος μερόηων άνθρώηων. Das Geschlecht der Lautstromabteiler, oder: Was es heißt, die eigene Stimme zu analysieren. In: Friedrich Kittler und Wolfgang Ernst (Hg.): Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift, Zahl und Ton im Medienverbund. München: Fink 2006, S. 171-198, z.B. S. 174f., 184, S. 186f.

[8] Theweleit, Klaus: Warum Cortés wirklich siegte. Technologiegeschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen. Berlin: Matthes & Seitz 2020 (Pocahontas Bd. III)

[9] Cf. Siegert, Bernhard: Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900. Berlin: Brinkmann & Bose 2003, hier S. 74f. Sofern eine Adaptierung dieses Apparat-Begriffs für das 21. Jahrhundert notwendig wäre, müsste die Verarbeitung und Verknüpfung von Daten mittels Algorithmen und einschlägiger Speichersysteme mit aufgenommen werden. Im Sinne konstruktiver Erweiterung der notwendigen Komplexität lässt sich für eine soziologische Engführung des relevant erscheinenden Habitus-Begriffs Pierre Bourdieus mit der Agent- respektive ANT-Terminologie, wie sie von Bruno Latour betreut wird, u.a. verweisen auf Airoldi, Massimo: Machine Habitus. Towards a Sociology of Algorithms. Cambridge, Medford/Mass.: Polity Press 2022.

[10] Siegert, S. 70 – Theweleit, S. 194.

[11] Cf. Meynen, Gloria: Büro. Diss. masch. Berlin 2004. (Die Arbeit zeigt auch auf, was die Einrichtung des »Büros« seit dem 13. Jhdt. für Konsequenzen zeitigte.)

[12] Cf. Berz, Peter: 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts. München: Fink 2001.

[13] Kittler, Friedrich: Draculas Vermächtnis. In: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam 1993, S. 11–57. Nur: Kittler erkennt weder Soenneckens oder (des Registrators!) oder Shannon Fangzähne, noch die Tödlichkeit der Stanzung, Ordnung und Ablage (wie sie dann Kafkas Process am Ende eingestochen erscheinen, jenem Aktenlauf par excellence für die Literaturgeschichte). Er sieht Draculas zwei Beißer-Marken alten vampiresken Stils, liest von den beiden (beinahe schon post-) kolonial codierten Messern die Draculas Leben enden (je ein Gurkha- und ein Bowie-Messer), er weiß um die beiden Schlachtermesser die den Process endigen werden, aber er sieht den tatsächlichen bürotechnischen Zusammenhang quer durch diesen Roman nicht.

[14] z.B. Kittler, S. 33, 40, 46.